Orientierung

gestern

wollte ich nach oben sehen,

aber oben war nicht da

ich suchte rechts und ich suchte links.

ich konnte oben nicht finden.

als ich unten nach oben sehen wollte,

war auch unten weg.

solange ich nicht weiß,

wo oben und unten sind,

könnte ich daneben sein.

Kaputt

Das Internet war kaputt! Einen wohlgemeinten Hinweis habe ich nicht verstanden. Nun ist eine hässliche Lücke in der an sich zuverlässigen Reihe der Veröffentlichungen entstanden. Mit Verspätung kommt hier Löwenzahn an Weinrebe.

Loewenzahn

 

Es ist eine Tochter

„Schnell! Sie sind gerade auf den Parkplatz gefahren.“ Elisabeth scheuchte Luc zuerst aus der Küche und dann aus der Wohnung. „Ich klingele durch, wenn sie weg sind“, flüsterte sie. Luc fuchtelte unzufrieden mit den Armen. „Willst Du diesem Theater nicht endlich ein Ende machen?“, fragte er. Elisabeth schüttelte den Kopf, während sie leise die Tür hinter ihm schloss.

Gut zwei Stunden später klingelte Lucs Telefon. „Hast Du noch von diesem Eis, das uns so gar nicht geschmeckt hat? Sabrina und Hajo fragen nach einem zweiten Dessert.“

„Ich wollte dieses fiese Zeug eigentlich schon weggeworfen haben.“ Luc kicherte. „Ich bringe es Dir gleich vorbei. Für zwei Portionen reicht es noch leicht.“

Sie erwartete ihn an der Wohnungstür. „Psst. Die beiden sind im Wohnzimmer und gucken einen schrecklichen Krimi“, flüsterte Elisabeth und scheuchte Luc sanft in die Küche. Elisabeth hatte liebevoll den Tisch für ein gemeinsames Nachtmahl gedeckt.

„Ist es Dir recht, wenn wir hier essen?“, fragte sie. „Natürlich. Das Esszimmer überlassen wir wie immer Deiner Tochter und ihrem Mann. Die Arbeit, die die beiden Dir fast jedes Wochenende machen, ist sowieso schon…“. Luc rang nach den richtigen Worten. „Lass gut sein und setz Dich. Es kann gleich losgehen“, beschwichtigte Elisabeth.

Das Essen, das Elisabeth für Tochter und Schwiegersohn gezaubert hatte, war wie immer exquisit. Fast an jedem Wochenende reisten die beiden ein paar hundert Kilometer an, um sich bei Elisabeth durchzufressen. Unverschämt war das. Und rücksichtslos. Luc wurde zornig, wenn er nur an Sabrina und ihren Mann Hajo dachte. Persönlich kennengelernt hatte er sie nie.

„Wie bist Du bloß an diese Tochter gekommen?“, hatte Luc sich einmal zu fragen getraut. „Früher war sie wirklich ein liebenswertes Mädchen“, erklärte Elisabeth. „Hajo hat keinen guten Einfluss auf sie. Erst seit sie ihn kennt, ist sie so. Was soll ich machen? Sie hat ihn sich ausgesucht.“

Zur Strafe hatte Luc mit Hajos Zahnbürste die Kalkablagerungen rund um die Waschtischarmatur im Badezimmer geschrubbt. Mit dem Ergebnis zufrieden hatte er die Zahnbürste kurz unter einem Wasserstrahl abgespült und zurück ins Glas gestellt.

Luc war Elisabeths Geheimnis. Seit vielen Jahren wohnten sie im gleichen Haus. Mehr als ein „Guten Tag“ im Hausflur oder auf der Straße hatte sie nie gewechselt.

Kennengelernt hatten sie sich erst als Elisabeths Mann Hans-Günther schon tot war. Eine Freundin hatte Elisabeth damals gedrängt, zu einem Treffen von Hobbyköchen zu gehen. „Das wird Dir gut tun. Dann kommst Du mal raus“, hatte sie gesagt.

Luc war Gründungsmitglied. Als gebürtiger Niederländer fühlte er sich vielen Küchen verbunden. Nachdem er sich in einem Amsterdamer Restaurant unsterblich in eine Karibikschönheit verliebt hatte, hatte er eine Zeit auf Curaçao gelebt. Dieser Liebe waren andere gefolgt und Luc gelang das Kunststück, auch ohne regelmäßiges Einkommen ein gutes Auskommen zu haben. In erstaunlicher Geschwindigkeit hatte er die Landessprache Papiamentu gelernt, die eine wunderbare Symbiose aus spanisch, niederländisch, englisch und portugiesisch war. Von Zeit zu Zeit wurde er als Dolmetscher gebraucht. Wichtiger als diese Arbeit waren jedoch die Kontakte, auf deren Pflege Luc großen Wert legte. Luc war damals quasi der Nachrichtendienst von Willemstad. Neuigkeiten hatte er am liebsten morgens, mittags und abends überbracht. Häufig genug war er zum Essen eingeladen worden. Er hatte ein fürstliches Leben gelebt.

Irgendwann hatte er genug gehabt und so war Luc zurück nach Europa zurückgekehrt. Viele Jahre hatte er an der Côte d’Azur gelebt. Neben schönen Frauen hatte er die Geheimnisse der französischen Küche kennengelernt. Warum es ihn ausgerechnet nach Deutschland verschlagen hatte, blieb Lucs Geheimnis. „Manchmal spielt einem das Leben einen Streich“, sagte er auf Nachfragen und lächelte. „Ich bin sehr glücklich hier.“

Luc war groß und schlaksig. „Ich glaube, Dich haben sie bei der Geburt aus Versehen zu lang gezogen“, vermutete Elisabeth, wenn sie vor ihm stand und den Kopf recht weit in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Lucs Augen waren sehr blau. Die Farbe wirkte fast unnatürlich. Die Augen lenkten von der krummen Nase („Ach, da war mal so eine Sache in Amsterdam“) und der Narbe am Kinn („Unfall mit dem Dreirad“) ab. Mit seinem Charme konnte Luc fast jeden um den Finger wickeln. Wenn er sein spitzbübisches Lächeln aufsetzte, verzieh man ihm noch vor der Beichte.

Als er Elisabeth das erste Mal in die Augen sah, ging sein Blick so tief, dass Elisabeth ihren verlegen abwenden musste. Das war nun ungefähr fünf Jahre her.

Immer, wenn Sabrina und ihr Mann kamen, veranstalte Elisabeth das gleiche Theater. Luc musste die Wohnung verlassen, während Elisabeth sich beide Beine ausriss, um für Tochter und Schwiegersohn Menus zu zaubern, die mindestens einen Stern im Guide Michelin verdient hätten. Die beiden nahmen Elisabeth hemmungslos aus. Bei jedem Besuch durchsuchten sie die Wohnung nach Wertsachen. „Andenken an ihren Vater“, korrigierte Elisabeth. Luc war sich jedoch sicher, dass sie nur mitnahmen, was sich zu Geld machen ließ. Zuletzt hatten sie Elisabeth sogar das Auto abgeluchst.

Einmal hatte Luc es nicht rechtzeitig aus der Wohnung geschafft. Bis die beiden endlich zu einem Treffen mit Freunden aufbrachen, hatte er in der Küche gehockt, immer bereit, sich in der angrenzenden Abstellkammer zu verstecken. Ein Gang in die Küche hätte vorausgesetzt, dass Sabrina ihrer Mutter hätte zur Hand gehen wollen. Elisabeths Tochter kam nicht auf diese Idee.

Ein anderes Mal hatte Luc es provoziert, in Elisabeths Wohnung bleiben zu müssen. Es wurde ein vergnügter Abend. Während Elisabeth Suppen und Soßen rührte, hatte Luc dafür gesorgt, dass Elisabeths Champagnerglas nicht leer wurde. Die Gefahr, entdeckt zu werden, prickelte mindestens wie der Champagner. Elisabeth kicherte so ausgelassen über Lucs Witze, dass sie hätten auffliegen müssen. Sabrina und Hajo waren wie immer so mit sich selbst beschäftigt, dass sie auch nicht bemerkten, dass Elisabeths Gesicht von Champagner und Freude glühte.

Anfangs hatte Elisabeth Sorge gehabt, ihre Tochter könnte gekränkt sein, wenn sie nach dem Tod ihres Vaters von dem neuen Mann in Elisabeths Leben erführe.

Später wollte sie sich die Freude, die sie mit Luc erlebte, nicht von Sabrina verderben lassen. Das wäre Sabrina zweifellos gelungen. Nach ihrer anschaulichen Gardinenpredigt über Arterienverkalkung und Cholesterinwerte war Elisabeth für eine Zeit sogar die Lust auf Pizza von ihrem Lieblingsitaliener vergangen.

Hans-Günther war ein paar Jahre tot, als Elisabeth und Luc zufällig entdeckten, dass Hans-Günther ein heimlicher Sparstrumpfsparer war.

Elisabeth hatte die Abstellkammer hinter der Küche aufgeräumt und die Vorräte überprüft. An den Kauf einer Dose „Seelenwärmer“ hatte sie sich nicht erinnern können. Sie hatte sie daher in die Küche gestellt. Als Luc die Dose öffnen wollte, schien sie ihm merkwürdig leicht. Er öffnete die Konserve und beförderte ein dickes Bündel Geldscheine ans Tageslicht.

Elisabeth musste sich setzen. „Und ich habe immer so geschimpft, wenn er zum Pferderennen ging.“

Ein weiteres Durchforsten der Konserven deckte fünfzehn weitere Verstecke auf. Hans-Günther hatte sein Geldvermögen fein säuberlich in Dosen verschließen und phantasievolle Etiketten anfertigen lassen. Neben Seelenwärmern gab es zum Beispiel die Sorten „Vogelfrei – die besondere Kraftbrühe“, „Liebestrank“ und „Klare Brühe mit Glücksklößchen“.

Das Vermögen, das Hans-Günther verborgen hatte, war erheblich. Fast hundertdreißigtausend Euro hatten sie gefunden. Ihrer Tochter hatte Elisabeth nichts von Reserven ihres Vaters erzählt. Sie kannte ihre Tochter schließlich und wusste, dass Sabrina das gesamte Bargeld mitgenommen hätte.

„Warum glaubst Du, hat Dein Mann sein Geld in Konservendosen in der Küche versteckt? Er wollte, dass Du es findest und nicht Deine Tochter“, beschwichtigte Luc Elisabeths schlechtes Gewissen. „Jetzt kaufst Du Dir erst mal eine neue Küche!“, schlug er vor und hatte gleich viele Ideen zur Umsetzung parat. „Was Du nicht brauchst und übrig bleibt, erbt sie sowieso“, stellte Luc fest und beendete damit die Diskussion.

Der überraschende Reichtum erlaubte Elisabeth ein bequemes Leben. Seit Elisabeth kein Auto mehr hatte, gönnten sie und Luc sich nach dem Theaterbesuch ein Taxi. „Ich glaube mein Blut braucht ein bisschen Würze“, leitete Elisabeth regelmäßig den Vorschlag ein, mal wieder zum Lieblingsitaliener zu gehen.

Etwas seltener besuchten Elisabeth und Luc das kleine französische Restaurant, in dem Luc so gerne mit dem Maître über das Leben an der Côte d’Azur schwadronierte.

Dass ihre Tochter ihr vor zwei Jahren eine Tüte Zwieback zum Geburtstag geschenkt hatte, bestätigte sie in ihrer Entscheidung, Sabrina nicht alles zu erzählen. Luc, Koch-Club und Geldsegen sollten ihr Geheimnis bleiben.

Das schöne, unbeschwerte Leben, das sie gemeinsam mit Luc genießen konnte, ließ sie beim Gedanken an die Besuche ihrer Tochter gelassen bleiben.

„Ach“, hatte sie erst kürzlich zu Luc gesagt, „ich bin doch schließlich die einzige Mutter, die dieses Kind aushalten kann.“

 

Familiensinn

„Gott sei Dank, wir scheinen heute ohne Stau durchzukommen!“ Sabrina lächelte zufrieden. „Mutter wird sicher schon das Essen fertig haben.“

„Ja, ich habe auch einen Mordshunger. Ich brauche in der Filiale nicht lang. Hirschfelder ist sicher schon zu Hause bei Frau und Kind und wird mich nicht aufhalten. Da kann ich schnell ein paar Vorräte einpacken und schon sind wir zurück auf der Autobahn.“ Im nächsten Moment steuerte Hajo auf den Parkplatz der Filiale, die er für heute zur Kontrolle ausgesucht hatte. Als Regionalleiter oblag es ihm, regelmäßig die Filialen in seinem Bezirk zu kontrollieren. Drei Filialen lagen auf dem Weg zu seiner Schwiegermutter. So konnten er und Sabrina unterwegs kurz halten und er machte einen Abstecher in die Filiale. So spät am Freitagnachmittag war nur noch selten ein Mitarbeiter anzutreffen. Das bot die Gelegenheit, ungestört die Büroartikel für sich und Sabrina auffüllen. Um den Schein zu wahren, kritzelte er am Ende seines Besuchs ein paar Notizen auf einen Zettel, den er auf dem Schreibtisch des Filialleiters zurückließ. Hierdurch konnte Hajo eine Kilometerpauschale für die Fahrt zur Filiale geltend machen. Die Fahrtzeit verbuchte er als Arbeitszeit. „Eine echte Win-Win-Win-Situation“, scherzte Hajo gerne „Kilometergeld, Überstunden und obendrein ein Streifzug durch das Lager – ich bin halt der Gewinnertyp.“

Streng genommen war Hajo ein Dieb und Betrüger, das wusste Sabrina. Dennoch bewunderte sie ihn für seine Kaltschnäuzigkeit. Sie wusste, es war an den Haaren herbeigezogen, doch wenn sie im Auto auf Hajos Rückkehr von seinem „Einkaufsbummel“ durch das Lager wartete, bildete sie sich gerne ein, sie sei Bonnie, die auf ihren Clyde wartete. Dass das Auto ordentlich geparkt, der Motor aus und die Beute aus Kopierpapier, Druckerpatronen und gelegentlich auch Toilettenpapier und Reinigungsmitteln bestand, war nebensächlich.

Seit Hajo versetzt worden war, wohnten sie fast zwei Autostunden von Sabrinas Mutter entfernt. Für Hajo war die Versetzung ein notwendiges Übel auf der Karriereleiter. Damit man nicht vergaß, ihn wieder zurück an den Hauptsitz der Firma zu holen, achtete er peinlich auf regelmäßigen Kontakt zu seinem Chef. Dass sie die Wochenenden bei Sabrinas Mutter verbringen konnten, dort immer ein Bett und eine warme Mahlzeit vorfanden, war auch für Hajo eine angenehme Begleiterscheinung.

Sabrina rühmte sich mit den häufigen Besuchen bei ihrer Mutter. Neuen Bekanntschaften gegenüber versäumte sie es nie zu erwähnen, dass für ihre Mutter die Besuche ihres einzigen Kindes das Lebenselixier waren – vor allem seit dem Tod von Sabrinas Vater. „Mutter Theresa“ neckte Hajo Sabrina. Tatsächlich war er stolz auf Sabrina. Sie hatte die Sache mit ihrer Mutter sehr gut im Griff. Elisabeth hatte großes Glück mit Tochter und Schwiegersohn, da waren sich Sabrina und Hajo einig.

Hajos Eltern waren seit vier Jahren tot. Ein halbes Jahr, nachdem sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, starb auch seine Mutter. Danach hatte er sich um alles gekümmert. Es hatte ihn zeitlich sehr in Anspruch genommen, das Haus zu durchforsten. Viel hatte er nicht gefunden, was sich gut verkaufen ließ. Seine Geschwister beteiligte er sogar mit einem kleinen Anteil an den Verkaufserlösen. Trotzdem hatte er sie seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Inzwischen war jeglicher Kontakt abgebrochen. „Undank ist der Welten Lohn“, hatte auch Sabrina bestätigt.

„Weißt Du, was Deine Mutter vorbereitet hat?“, fragte Hajo während ihm beim Gedanken an das bevorstehende Essen das Wasser im Mund zusammenlief.

„Ich habe um nichts Spezielles gebeten. Als ich Mutter gestern wie üblich anrief, um unseren Besuch anzukündigen, hat sie gefragt. Sie geht mir so auf die Nerven. Jedes Mal das Gleiche. Als wüsste ich donnerstags, worauf ich freitags Appetit habe. Das habe ich ihr bestimmt schon hundertmal gesagt. Sie macht mich wahnsinnig mit diesen ewigen Nachfragen. Na ja. Vermutlich wird sie uns wie immer die Wahl lassen.“

„Ich bin froh, dass wir heute Abend nichts mehr vorhaben. Dass wir morgen zu Gina müssen, reicht mir für dieses Wochenende.“ Schon bei dem Gedanken an einen Abend bei Gina fühlte Hajo sich erschöpft.

„Heute Abend kommt ein guter Krimi. In der Kritik stand was von „unnötiger Brutalität“, sagte Sabrina. Hajo nickte. Es war ihm nur recht, dass für seine Frau keine Szene zu gewalttätig oder blutig sein konnte. Ein solcher Fernsehabend hatte zudem den angenehmen Nebeneffekt, dass sie das Wohnzimmer für sich hatten. Einmal hatten sie einen Film gemeinsam mit Sabrinas Mutter gesehen. Elisabeth war selbst bei den harmlosen Szenen zusammengezuckt und hatte den Blick abgewendet. Nach einer halben Stunde war sie aufgestanden und bis zum Ende des Films nicht ins Wohnzimmer zurückgekehrt. 

Etwa eine halbe Stunde vor der Ankunft angelte Sabrina nach dem Handy in ihrer Handtasche, um ihr baldiges Eintreffen bei Mutter anzukündigen.

Sabrinas Mutter wohnte in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses aus den 1960er Jahren. Es gab keinen Aufzug, weshalb Sabrinas Mutter nach dem Tod ihres Mannes vor bald zehn Jahren überlegt hatte, in eine kleinere Erdgeschosswohnung umzuziehen. Hajo und Sabrina hatten ihr abgeraten. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, hatte Sabrina gesagt. „Außerdem hält dich das Treppensteigen fit“, pflichtete Hajo bei. Tatsächlich hatten sie sich Sorgen wegen der Finanzen gemacht. Die Miete für die Wohnung im dritten Stock war geradezu lächerlich niedrig. Zu einem vergleichbaren Preis würde Elisabeth noch nicht einmal ein Appartement finden. Und wo sollten sie dann am Wochenende übernachten? So war es viel praktischer. 

Schon im Hausflur wurden sie vom verführerischen Duft des Essens begrüßt. „Hallo Elisabeth. Es riecht nach Kalbsgeschnetzeltem mit Steinpilzen. Habe ich Recht?“, begrüßte Hajo seine Schwiegermutter und schob sie zur Seite, um sich gleich im Esszimmer breit machen zu können. Dort hatte Elisabeth für die beiden wie üblich eingedeckt. „Wenn euch der Sinn nach Fisch steht, habe ich auch noch zwei wunderbare Forellen, die ich euch „Müllerin“ machen könnte. Bei der Vorspeise könnt ihr zwischen gebratener Jakobsmuschel auf Feldsalat mit einer Tomatenvinaigrette und einem leichten Spinat-Soufflé wählen.“ Die Wahl fiel auf Jakobsmuschel und Kalbsgeschnetzeltes.

Bis das Essen serviert werden konnte, räumte Sabrina die Reisetasche aus und hängte Blusen und Hemden in den Kleiderschrank in Sabrinas Kinderzimmer. Hajo warf sich auf das komfortable Doppelbett, das Sabrinas altem Bett gewichen war. 

Elisabeth aß nie mit ihnen gemeinsam. Während Sabrina und ihr Mann sich über die Vorspeise hermachten, kümmerte sie sich in der Küche um den nächsten Gang. Sabrina und Hajo waren ungestört und mussten nicht mit Mutter Smalltalk halten. Elisabeth hatte mit der Zubereitung der Speisen und dem Auf- und Abtragen des Geschirrs genug zu tun.

Auch ihr war dieses stillschweigende Abkommen sehr recht. Elisabeth konnte sich nicht erinnern, wann Sabrina die Küche zuletzt betreten hatte. Selbst nach der Beerdigung ihres Mannes hatte Elisabeth sich ohne Hilfe um Kaffee und Kuchen gekümmert. Dass sie vor vier Jahren eine neue Küche gekauft hatte, hatte sie Sabrina und Hajo nicht erzählt. Natürlich hätten sie wissen wollen, woher sie das Geld dafür hatte. Ihre Sorge war unbegründet. Auf die Idee, auch nur einen Blick in die Küche zu werfen, kamen Sabrina und Hajo nie. Dass die Küche ausgetauscht worden war würden sie noch merken, wenn sie nach Elisabeths Beerdigung den Kaffee selbst würden kochen müssen.

Bei der Küchenausstattung hatte Elisabeth an nichts gespart. Sogar einen Konvektomaten hatte sie sich gegönnt. Die Mitglieder ihres Kochclubs, die jeden zweiten Mittwoch mit ihr gemeinsam in der Küche standen, waren begeistert. „Eine echte Profiküche“, hatten sie anerkennend festgestellt und ihr geraten „Du solltest hier Kochkurse geben“. Darüber dachte sie noch nach. Der Clou war der Flachbildfernseher. Während Sabrina und Hajo im Wohnzimmer schlimme Filme guckten, konnte sie den Abend bei einem Glas Wein und dem besseren Fernsehprogramm in ihrer Küche gemütlich ausklingen lassen.  

Nach dem Essen fläzten sich Sabrina und Hajo im Wohnzimmer auf dem Sofa und schalteten den Fernseher ein. „Der Krimi wird nichts für Dich sein, Mutter. Kümmere Du Dich ruhig um Deine Küche. Hast ja sicher viel Spül. Wir kommen schon klar“, komplimentierte Sabrina ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. „Hast Du noch Eis im Froster? Ich könnte mir später noch ein zweites Dessert vorstellen“, ermutigte Hajo seine Schwiegermutter, am späteren Abend noch eine weitere Leckerei zu servieren.

Wieder in der Küche, griff Elisabeth zum Telefon. „Hast Du noch von diesem Eis, das uns so gar nicht geschmeckt hat? Sabrina und Hajo fragen nach einem zweiten Dessert.“

„Ich wollte dieses fiese Zeug eigentlich schon weggeworfen haben.“ Ihr Nachbar Luc kicherte. „Ich bringe es Dir gleich vorbei. Für zwei Portionen reicht es noch leicht.“

Am nächsten Morgen wurden Hajo und Sabrina vom Duft frisch gebrühten Kaffees geweckt. Sabrina ging als erste ins Bad. Ein schrilles „Iiiihhh“ riss Hajo aus seinen Gedanken. Genervt stieg er aus dem Bett und ging ins Bad. „Was ist los? Ich war noch mal so schön weggedöst“, beklagte er sich. „Hier kam gerade eine ekelige braune Brühe aus der Dusche. Das ist unzumutbar. Mutter muss sich unbedingt beim Vermieter beschweren“, schnaubte Sabrina ungehalten. „Hauptsache, sie will dann nicht wieder umziehen“, wandte sich Hajo ab, um wieder ins Bett zu gehen.

Bis beide geduscht und angezogen waren, hatte Elisabeth die Anrichte im Esszimmer in ein Frühstücksbuffet verwandelt. Kaum hatten Sabrina und Hajo Platz genommen, servierte Elisabeth Spiegel- und Rühreier mit Speck, der so kross gebraten war wie nur Elisabeth es konnte.

„Was ist denn mit Deinen Wasserleitungen? Da kam heute Morgen eine ekelige braune Brühe aus der Dusche.“ Sabrina war immer noch hörbar aufgebracht.

Mit dem Rücken zu ihrer Tochter arrangierte Elisabeth die Käseplatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Woher sollte ihre Tochter auch wissen, dass ein bisschen Worchestersoße diesen Effekt hatte, wenn man sie in den Duschschlauch füllte. „Muss an den alten Leitungen liegen“, brachte Elisabeth gepresst hervor. Sie würde später in der Küche darüber lachen, dass dieser Streich so gut gelungen war.

Beim letzten Kochclub-Treffen hatte Luc von diesem Streich in einem Feriencamp erzählt. Elisabeth hatte über sich selbst gestaunt, dass sie den Vorschlag, mit diesem Streich ihrer Tochter „den Kopf zu waschen“ gleich in die Tat umgesetzt hatte.

„Wann warst Du eigentlich mit dem Wagen das letzte Mal in der Inspektion?“, fragte Sabrina spitz. „Im Scheckheft ist nichts vermerkt.“

„Ich glaube, ihr habt mit dem Auto auch alle Unterlagen mitgenommen. Die letzte Inspektion müsste ich im letzten Frühjahr bei 25.000 Kilometern gemacht haben. Bist Du zufrieden mit dem Auto?“ Elisabeth vermisste es noch gelegentlich. Vor einem halben Jahr hatte Sabrina es mitgenommen und ihr stattdessen einen dieser Einkaufstrolleys dagelassen. „Ich mache mir Sorgen, Mama. Nach einer Statistik bauen Autofahrer in Deinem Alter zunehmend Unfälle. Und weil sie es nicht immer bemerken, wenn sie beim Einparken den Nachbarwagen ramponieren, begehen sie ganz oft Fahrerflucht und machen sich strafbar. Du solltest auf das Autofahren verzichten“, hatte Sabrina damals vorgetragen. Sie hatte das Auto noch am selben Wochenende mitgenommen. Es lief weiter auf den Namen ihrer Mutter, schon allein der Versicherung wegen. Hajo hatte Sabrinas in die Jahre gekommenen Kleinwagen noch sehr gut verkaufen können. „Jeden Morgen steht ein Dummer auf“, freute er sich über den erzielten Preis. „Das reicht für eine Woche Mallorca im Drei-Sterne-Tempel.“

„Du weißt, dass wir heute Abend bei Gina eingeladen sind?“, fragte Sabrina nach dem Frühstück um sicherzustellen, dass Mutter für die richtige Vorbereitung sorgte. Gina war keine gute Gastgeberin. Als sie das erste Mal bei ihr eingeladen waren, waren sie ein paar Minuten zu früh angekommen. Gina hatte kauend die Tür geöffnet und eilig einen Pizzakarton in die Küche geräumt. Für die Gäste gab es bis auf ein paar Salzstangen nichts zu essen. Die Versorgung mit alkoholischen Getränken war tadellos, bis um ungefähr 22:00 Uhr das Bier ausging. Als es eine Stunde später auch keinen gekühlten Wein mehr gab, verabschiedeten Sabrina und Hajo sich.

Dennoch konnten sie Ginas Einladungen nicht ausschlagen. Hajos Chef würde da sein. Sie wussten nicht warum, aber er hatte einen Narren an Gina gefressen. Sabrina bemühte sich sicherheitshalber um Ginas Freundschaft. „Es wird unser Schaden nicht sein“. Hajo lächelte Sabrina an und strich ihr über die Wange. Er wusste ihr Opfer zu schätzen.

Zur Vorbereitung auf einen Abend bei Gina mussten es eine Elsässer Schlachtplatte mit Sauerkraut und Sahnepüree oder ein deftiger Eintopf mit reichhaltiger Einlage sein. Elisabeth bereitete besonders große Portionen zu. Nur so schafften es Hajo und Sabrina bei Gina durchzuhalten. Die Vorfreude auf Mutters Mitternachtssuppe ließ sie den Abend durchlächeln.

Nach dem Frühstück am Sonntag packten Sabrina und Hajo die kleine Reisetasche und strichen in Elisabeths Wohnung von Zimmer zu Zimmer. „In der Küche brauchen wir nicht gucken. Da ist das wertvollste ein Mixer von 1974“, dirigierte Sabrina ihren Mann.

Nach dem Tod von Sabrinas Vater hatten sie immer wieder Kleinigkeiten entdeckt, die sich im Internet gut verkaufen ließen und die Elisabeth wegen der Erinnerungen an ihren Mann vermutlich nur belastet hätten. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit Vaters Münzsammlung hätte tun sollen. Hajo erklärte ihr, wie gut man sich beim Betrachten und Sortieren von Münzen entspannen könne. Elisabeth hatte ihn erstaunt angesehen. „Das wusste ich gar nicht, dass Du Dich auch für Münzen interessierst“.

„Es gibt Vieles, was Du nicht von mir weißt“, hatte Hajo spitz geantwortet und sie nachsichtig angelächelt.
Bis zum nächsten Besuch hatte Elisabeth die komplette Sammlung verpackt bereitgestellt.

Damals hatte Hajo gleich nach der Rückkehr am Sonntagabend erste Kontakte in einschlägigen Chatrooms geknüpft. Die Versteigerung stieß auf unerwartet große Nachfrage. Sabrina hatte nicht gewusst, dass ihr Vater so wertvolle Stücke besessen hatte und sich einen Moment gewundert. Auch Vaters Werkzeug erzielte ein paar Wochen später einen guten Preis. „Sagen wir besser nichts“, schlug Hajo vor. „Deine Mutter würde sich nur aufregen, wenn sie wüsste, wofür Dein Vater sein Geld auf den Kopf gehauen hat. Besser, wir belasten sie damit nicht.“ Sabrina stimmte ihm zu.

Bevor Sabrina und Hajo am Sonntag die Heimreise antraten, servierte Elisabeth ihnen traditionell frische Suppe mit selbst gemachten Markklößchen und einen saftigen Rinderbraten mit Sahnesoße. Seit frühen Kindertagen liebte Sabrina diese „Sonntagssoße“. Wenn Elisabeth dazu als klassische Beilage Erbsen und Möhren reichte, war der Tag für Sabrina ein wirklicher Sonntag! Wenn es die Saison zuließ, kaufte Elisabeth Erbsenschoten auf dem Markt und palte sie anschließend. Das bereitete ihr zwar mehr Mühe, die Sabrina für den ungleich größeren Genuss Sabrina allerdings für gerechtfertigt hielt.

„Packst Du uns die Reste ein? Du kannst uns ruhig von allem mitgebe. War alles lecker“, erinnerte Hajo Elisabeth nach dem Essen. „Im Esszimmer lag übrigens ein Prospekt von einem Lieferdienst. Darüber haben wir doch schon gesprochen, Elisabeth“, tadelte er seine Schwiegermutter. „Dafür solltest Du deine Rente wirklich nicht ausgeben“, pflichtete Sabrina bei. „In Deinem Alter musst Du aufpassen. Ein paar Kartöffelchen mit Sauce sind genug. Im Alter darf man den Organismus nicht überfordern. Hast Du noch von dem Zwieback?“ Elisabeth senkte den Blick und nickte.

Nachdem Sabrina ihr wie üblich die mitgebrachten Frischhaltedosen in die Hand gedrückt hatte, befüllte Elisabeth sie in der Küche. Sie fluchte leise, als ihr der bereits mit Fleisch und Sauce gefüllte Behälter in Spülwasser plumpste. Sie hatte Glück – der Inhalt war nur wenig verwässert. Elisabeth rührte das Spülwasser sorgfältig unter und war mit dem Ergebnis zufrieden. 

„Nächste Woche hat sie Geburtstag“, sagte Sabrina, als sie wieder mit Hajo im Auto saß. Ihre Mutter stand am Wohnzimmerfenster und winkte ihnen nach.

„Zwieback?“, fragte Hajo. Seit einiger Zeit schenkten sie ihr jedes Jahr zum Geburtstag eine große Packung Zwieback. „Aber nur den guten. Man hat schließlich nur eine Mutter“, antwortete Sabrina.

 

Frühlingsanfang

 

 

 

 

 

 

Bis der Mohn wieder blüht, dauert es voraussichtlich noch ein bisschen. Um die Zeit sinnvoll zu überbrücken, empfehle ich

Apfel-Mohnkuchen mit Schmandguss

Zutaten für 16 Stücke:

300 g Mehl225 g Zucker

1 Päckchen Vanillezucker

1 Prise Salz

175 g Butter

5 Eier (Größe M)

1 kg Äpfel (z. B. Elstar)

1/8 l Apfelsaft

375 g Schmand

1 Päckchen Soßenpulver „Vanille-Geschmack“ (für 1/2 l Milch; zum Kochen)1 Packung (250 g) backfertige Mohnfüllung

75 g Apfelgelee

Mehl für die Arbeitsfläche

Fett für Form

 

Mürbeteig

Mehl, 150 g Zucker, Vanillezucker, Salz, Butter und 1 Ei in eine Rührschüssel geben und mit den Knethaken des Mixers zu einem Teig verkneten. Auf einer bemehlten Arbeitsfläche zu einem Kreis (ca. 32 cm Ø) ausrollen. Eine Springform (26 cm Ø) fetten. Die Teigplatte vorsichtig in die Form legen und den Rand ca. 3,5 cm hochziehen und andrücken. Den Boden mit einer Gabel mehrmals einstechen und in der Form ca. 30 Minuten kalt stellen.

 

Füllung

Die Äpfel vierteln, entkernen und in grobe Stücke schneiden. Den Apfelsaft aufkochen und die Äpfel darin 2-3 Minuten ziehen lassen. Dann auf ein Sieb gießen und gut abtropfen lassen.

 

Guss

250 g Schmand, 4 Eier, 75 g Zucker und das Soßenpulver mit den Schneebesen des Mixers verrühren.

125 g Schmand, die Mohnmasse und das Apfelgelee verrühren. Die Masse auf den Mürbeteigboden geben und die Äpfel darauf verteilen. Den Guss darüber gießen. Im vorgeheizten Backofen (E-Herd: 175 °C/ Umluft: 150 °C/ Gas: Stufe 2) ca. 1 Stunde backen. Aus dem Ofen nehmen und auf ein Gitter setzen. Den Mürbeteig mit einem Messer vom Springformrand lösen. Den Kuchen mindestens vier Stunden in der Form auskühlen lassen. Aus der Form lösen und auf einer Platte anrichten.