Das Phänomen Zeit

Ich kenne Menschen, die haben drei pubertierende Kinder, betreuen die bettlägerige Schwiegermutter, engagieren sich in der Nachwuchsförderung des Sportvereins und finden dennoch Zeit für ein spontanes Kaffeetrinken in dem schönen neuen Café am Marktplatz.

Ich habe keine Kinder, meine Schwiegermutter erfreut sich bester Gesundheit und ich bin in genau keinem Verein Mitglied. Dennoch habe ich keine Zeit. Warum nicht? Wie gerne würde ich jeden Abend erst mal eine Runde joggen gehen, um mich nach erfrischender Dusche und entspannt dem ausgiebigen Schnippeln von Gemüse für das ausgewogene Abendmahl zu widmen! Wie gerne würde ich morgens um 5:30 Uhr ausgeruht aus dem Bett springen, um voller Energie den Tag zu beginnen!

Der Wecker klingelt bei uns um 5:20 Uhr. So, wie Italiener durch eine rote Ampel nur ermuntert werden, vor Überqueren der Fahrbahn nach rechts und links zu schauen, so ist das Klingeln des Weckers für mich eine Anregung, ein unverbindlicher Vorschlag, bei Gelegenheit das Bett zu verlassen. Ich mache das Radio an und döse von Ausrede zu Ausrede: „Oh, interessante Kurzreportage!“ „Ach, noch eben die Nachrichten abwarten!“ „Schönes Lied, das höre ich noch zu Ende und dann stehe ich auf!“ Pünktlich um 5:40 Uhr stellt sich die Katze neben mein Bett und begehrt ihr Frühstück. Ich habe ein schlechtes Gewissen, bin aber im Bett festgenagelt und nicht in der Lage aufzustehen. Mein Mann versucht, die Geräusche, die Katze und Radio machen, zu ignorieren, um noch ein Stündchen zu schlafen.

Um 6:36 Uhr stelle ich mit den Worten „Mist, schon so spät“ die Uhrzeit fest und bin total genervt, dass ich mich jetzt so schrecklich beeilen muss. Die Katze ist heiser, aber immer noch hungrig. Ich mache das Radio aus und schleppe mich gähnend und dehnend in die Küche. Mein Mann ist so glücklich über die plötzliche Ruhe im Schlafzimmer, dass er den in der letzten Stunde ausgefeilten Mordplan wieder verwirft – wenn auch nur bis zum nächsten Weckerklingeln.

Gegen 8:00 Uhr treffe ich im Büro ein. Scheibenkleister! Wo findet noch gleich der erste Termin statt? Ich schaffe es so eben noch den Rechner hochzufahren, krame parallel die Unterlagen für das Meeting raus und telefoniere mit dem Chef. Wenn ich jetzt auflege, komme ich noch pünktlich.

Zwischen den Terminen werfe ich im Büro Unterlagen ab und schnappe mir die Papiere für die nächste Besprechung. So geht das bis zum frühen Abend. Dann endlich kann ich noch ein bis zwei Stunden am Rechner ein paar Mails beantworten und die Unterlagen für die Meetings am nächsten Tag zusammentragen und sichten.

An den allerbesten Tagen bin ich auf der Heimfahrt voller Tatendrang! Ich freue mich darauf, mich zu Hause schnell umzuziehen und durch den milden Abend zu joggen.
An guten Tagen schaffe ich es, auf dem Heimweg noch ein paar Einkäufe zu erledigen. Voller guter Vorsätze lade ich kiloweise frisches Gemüse in den Einkaufswagen und habe mindestens vier köstliche Gerichte im Kopf, zu denen ich die Pracht gleich verarbeiten werde.

Das Verlangen nach frischer Luft verklemmt sich zumeist ebenso in der Autotür wie der Plan für ein köstliches Gemüsegelage.
An schlechten Tagen haben entweder die Geschäfte schon zu oder mein Hirn ist nicht mehr in der Lage, an etwas anderes als an das heimische Sofa zu denken.

Das Sofa war teuer! Da soll es die Chance bekommen zu zeigen, was es so drauf hat! „Ich lege mich nur kurz mal eben hin“, rufe ich meinem Mann zu und strecke mich lang aus. Hat er gekichert? Die Katze freut sich über mein Päuschen und besteigt mich wie Cleopatra ihren Thron.

Ich widme mich gleichzeitig drei Dingen: meiner dringend benötigten Erholung, dem Dauerstresstest der Sofafederung und der Entspannungsmassage für die Katze.
Gelegentlich fallen mir bei dieser Anstrengung vor ebensolcher die Augen zu.

Upps – schon so spät! Jetzt noch zum Joggen das Haus verlassen? Jetzt noch stundenlang Gemüse schnippeln? „Ich hab‘ so Hunger“, klage ich den Gatten an. Gemeinsam gehen wir die Optionen durch:

  1. Den Griechen an der Ecke kochen lassen. Ach nein, nicht so ein ungesunder Mist.
  2. Spaghetti Pesto oder Tomatensuppe. Beides dauert nicht länger als 15 Minuten und geht immer!

Im Fernsehen werden Geschichten bebildert, die so unfassbar schlecht sind, dass ich sie niemals lesen würde. Wo die Glotze aber schon mal an ist, können wir auch mit der Suppe in der einen und dem Löffel in der anderen Hand reinstarren.

Um dem Körper die Verdauung zu erleichtern, sinke ich auf dem Sofa erneut in die Horizontale. Irgendwann macht mich der Gatte darauf aufmerksam, dass es an der Zeit ist, im Bett weiterzuschlafen. Dort träume ich davon, endlich mehr Zeit zu haben…

One thought on “Das Phänomen Zeit

  1. Silvia

    So richtig schön lebensnah, wie man es von Dir kennt!Ich habe die Situationen bildlich vor Augen und leide mit, weil ich das nur allzu gut kenne!
    Weiter so! Ich meine mit dem Schreiben! An den zum Teil hausgemachten Stresssituationen sollte man vielleicht etwas ändern.
    Silvia

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