
Sie glaubte die folgenden Worte zu hören: „Ich habe mich in Thorsten verliebt. Ich will mit ihm zusammen leben.“
Andrea klappte den Mund wieder zu, hielt sich die Hand davor und hielt die Luft an. Ein Glucksen geriet so erbärmlich, dass Rainer es für einen Schluchzer hielt. Betreten blickte er zu Boden.
Hatte Andrea richtig gehört? Hatte er Thorsten gesagt? „Thorsten?“ fragte sie. „Dein Kollege Thorsten? Der, mit dem Du im Frühjahr die Radtour gemacht hast?“ Rainer schwieg.
„Aber Thorsten ist ein Mann!“ stellte Andrea fest.
„Ich weiß, das muss jetzt hart für Dich sein“, begann er, ohne sie anzusehen. „Glaub mir, ich war genauso überrascht. Es war nicht leicht für mich, das zu erkennen.“ Andrea zog eine Augenbraue hoch. „Ach ja?“, fragte sie. Rainer wurde knallrot. Sie wusste, wie sehr Rainer sich darüber ärgerte, sich in diesem Moment missverständlich ausgedrückt zu haben.
„Du weißt doch, was ich meine. Es war schwer für mich, zu erkennen, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte“, setzte er neu an. „Es war noch schwerer, es zu akzeptieren. Inzwischen bin ich mir ganz sicher. Ich will mit Thorsten zusammenleben“, trug er weiter vor. Wie oft hatte er den Text wohl geübt?
„Aha“, dachte Andrea. Hatte er ihr gerade wirklich gesagt, dass er sie für einen Mann verlassen will? Und dann auch noch für Thorsten? Würde er jetzt zum Trost seine Hand auf ihren Unterarm legen, würde sie schreien.
„Ich kann Dir alles erklären!“, fuhr Rainer fort. „Oh, nein, keine Details“, unterbrach sie ihn. „Ich will das gar nicht wissen.“ Er würde doch jetzt nicht wirklich von seinem ersten Mal mit Thorsten erzählen wollen?
„Ich bin froh, dass es raus ist. Danke, dass Du es so ruhig aufnimmst.“ Andrea hörte die Erleichterung in Rainers Stimme. Sie fühlte Wut in sich aufsteigen. Bis vor wenigen Minuten hatte sie noch weiche Knie gehabt, weil sie Rainer ihre Liebe zu einem anderen Mann gestehen wollte. Wie konnte er ihr jetzt mit Thorsten kommen? Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Ihr dämmerte langsam die Tragweite seiner Beichte. Andreas Eltern lebten nicht mehr. Ihrem Vater würde sie diese Wendung in ihrer Ehe zum Glück also nicht mehr erklären müssen. Spätestens diese Nachricht hätte bei ihm den tödlichen Herzinfarkt ausgelöst. Rainers Eltern? Sie hatte keine Ahnung, wie sie es aufnehmen würden. Fast bedauerte Andrea es ein wenig, dass sie nicht das Gesicht ihrer Schwiegermutter sehen würde. Schadenfreude? Ein bisschen. Die Schwiegermutter hatte sich damals sehr enttäuscht über Rainers Wahl gezeigt und es Andrea immer spüren lassen.
Der gemeinsame Freundeskreis war geschrumpft. Regelmäßig trafen sie sich nur noch mit Anja und Bert. Anja würde das Ganze furchtbar peinlich sein. Bert würde sicher so was sagen wie „Bei der wäre ich auch lieber schwul geworden.“ Andrea konnte ihn ohnehin nicht leiden.
„Ich kann mir vorstellen, wie Du Dich jetzt fühlst.“ Rainer traute sich, Andrea ins Gesicht zu sehen. Andreas Wut wuchs. Verdammt. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Jetzt kannst Du jede Nacht mit dem Kater im Bett schlafen“. Falls Rainer scherzen wollte, war das gründlich misslungen. Jetzt diesen ewigen Streitpunkt ins Spiel zu bringen, war wohl das Allerletzte. Die Tränen waren verschwunden. Genau jetzt, in diesem Moment, hätte Andrea sicher die Kraft gehabt, ihn mit einer Hand von der Terrasse zu schubsen.
Andrea zog die Nase hoch und stand auf, die Hände zu Fäusten geballt. Bevor sie einen Schritt auf Rainer zumachen konnte, drehte er sich vom Sofa. „Ok Schatz, dann gehe ich jetzt mal besser“. Eine Sekunde später hörte sie die Tür ins Schloss fallen.
Andrea griff zum Telefon. Gott sei Dank! Ihr Bruder war zu Hause. Nach ihrem Bericht schwieg er einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Du Glückspilz!“ rief er. „Jetzt hast Du ihn in der Hand!“ Andrea verstand nicht.
„Vertraue Deinem Bruder. Ich habe schließlich Scheidungserfahrung. Rainer hat das schlechteste Gewissen, das man sich vorstellen kann. Jetzt kannst Du alles von ihm verlangen. Die Wohnung. Das Auto. E-h-e-g-a-t-t-e-n-u-n-t-e-r-h-a-l-t!“
„Ich betrüge ihn doch aber auch.“ „Das ist jetzt total egal. Hauptsache, Du behältst die Nerven. Erzähl mir von diesem Thorsten. Ist das nicht diese Lusche, die Rainer zu seinem Geburtstag eingeladen hatte?“
„Lass uns doch wie Erwachsene sprechen“, eröffnete Rainer am nächsten Tag das Gespräch. „Ja, sicher. Und Freunde bleiben“, erwiderte Andrea mit einer ehrlichen Portion Verbitterung. „Wie vermehren sich eigentlich Filzläuse“, sinnierte sie. Wie konnte er sie nur so demütigen? „Wenigstens kann er Thorsten nicht schwanger gemacht haben“, ging ihr durch den Kopf.
„Ich will die Wohnung“, sagte sie laut. Rainer nickte stumm. „Herpes Genitalis“, dachte sie und stellte sich vor, wie wunderbar Holgers Kommode sich neben dem Ohrensessel machen würde. Das Telefonat mit ihrem Bruder wirkte! Die Gewinnerseite fühlte sich gut an.
Rainer saß zusammengesunken am anderen Ende des Sofas. „Und das Cabrio“, setzte Andrea drauf und sah ihn fest an. Rainer seufzte und nickte erneut. Er wagte nicht, sie anzusehen. Ihrem Blick hätte er ohnehin nicht standhalten können.
„Ich glaube, du gehst jetzt besser“, befahl sie ihm. Rainer erhob sich hastig und schien erleichtert. „Deine Sachen kannst Du morgen holen, wenn ich nicht da bin.“ „Eitriges Analfurunkel“, flüsterte sie ihm hinterher und musste grinsen.
In einer knappen Stunde würde Holger vor der Tür stehen. Sie öffnete den Kühlschrank. Wunderbar, der Champagner, den Rainer von seinem Chef geschenkt bekommen hatte, war gut durchgekühlt. Andrea stellte auf der Terrasse Gläser für die kleine Sieges- und Willkommensfeier mit Holger bereit.
Holger sah die Wohnung zum ersten Mal. Dass Andrea dies alles für ihn aufgegeben hätte, rührte ihn. Er trat auf die Terrasse. „Wow! Was für eine Aussicht!“ Andrea freute sich über seine Begeisterung und verschwand in der Küche, um den Champagner zu holen. Im Flur kam ihr der Kater entgegen, den die Neugier aus dem Bett gelockt hatte.
„Was ist das denn? Eine aufgeplatzte Sofaecke auf Beinen?“ hörte sie Holger auf der Terrasse laut lachen. Der Kater setzte zum Sprung an. Als Holger ihn auf seinen Kopf zufliegen sah, versuchte er, sich am Geländer festzuhalten.