Annabelle

„Gestatten, mein Name ist Annabelle“, tippte sie in ihren Computer, um die knappe Zeile anschließend sofort wieder zu löschen. „Ach du liebes Thereschen“, dachte sie, „dass ist ja mal ein origineller Start!“ Schließlich wollte sie sich nicht als Bond-Girl bewerben, sondern eine Kontaktanzeige aufgeben!

„Ich, 34 J., weibl. habe genug gesingelt + möchte wieder doubeln“. Ach Mist! Sie würde Christina fragen müssen. Wahrscheinlich würde sie eine solche Anzeige locker formulieren. Wenn morgen Abend alles gut ging, würde sie die Anzeige vielleicht ohnehin nicht mehr aufgeben müssen.

Annabelle griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Eltern. „Erwin Koslowski“, melde sich ihr Vater nach kurzem Klingeln. „Hallo Papa, ich bin’s“, antwortete Annabelle und wartete brav ab, bis ihr Vater wie üblich eine seiner Interpretationen des Reinhard-Mey-Songs intoniert hatte. Ihren Vornamen hatte ihre Mutter ausgesucht. Sie liebte diesen Song von Reinhard Mey. Wenn ihr Vater sie den Refrain singend begrüßte, fühlte sie sich wie sein kleines Mädchen. Nannte sie Fremden ihren Namen, so entlockte ihr ein Hinweis auf das Meisterstück Reinhard Meys meist nur noch ein gequältes Lächeln.

„Papa, meinst Du, ich kann euch für Sonntagmittag einen Korb geben? Ich bin morgen Abend verabredet und würde Sonntag so gerne ausschlafen können“, fragte Annabelle vorsichtig nach und war froh, dieses Anliegen nicht bei ihrer Mutter platzieren zu müssen.

„Verabredet, so so. Mit wem denn? Ist er nett? Ach, wird aber auch Zeit! Wie lange bist Du jetzt solo? Das muss doch schon bald ein Jahr sein. Obwohl ich dem Gerald keine Träne hinterherweine. Der war nicht der Richtige für Dich! Aber Kindchen, Du wirst ja auch nicht jünger. Apropos: Was wünschst Du Dir eigentlich zum Geburtstag? Ist ja nicht mehr so lange hin und schließlich ist es der 35te“, sprudelte es aus ihrem Vater heraus.

„Ach, Papi, ich wünsch mir gar nichts. Ihr habt mir nun wirklich genug geholfen. Ohne euch müsste ich wohl noch vom Boden essen“. Nach der Trennung hatten Gerald und sie die Möbel aufgeteilt. Ihre Eltern hatten für sie einen neuen Esstisch gekauft.

„Nu komm, gönn‘ uns die Freude! Ich will nicht mehr Erwin Koslowski heißen, wenn ich meiner Großen nichts mehr zum Geburtstag schenken darf! Wenigstens irgendso’n Grünzeug für Deine Luxusterrasse wird doch wohl drin sein!“ Annabelle musste lachen. Ihr Vater mit dem Namen, den Loriot nicht schöner hätte erfinden können. Er hatte so ein großes Herz! Dass ausgerechnet dieses Herz ihm den Vorruhestand eingebrockt hatte, war nicht gerecht. Es war ihm geradezu peinlich, nicht mehr arbeiten zu dürfen. 

„Ja, sicher. Über irgendwas für den Balkon freue ich mich immer“, antwortete Annabelle. „Mit morgen geht dann alles klar?“

„Wenn ich das Deiner Mutter beibringen soll, dann musst du mir jetzt schon noch ein bisschen verraten. Wie heißt er denn nun? Und woher kennst du ihn?“ Annabelle erzählte – immer wieder unterbrochen von ihrem Vater. Dass sie ihn über das Internet kennengelernt hatte (Oh Gott, ist das denn nicht viel zu gefährlich?). Dass er Roberto hieß (Ach, nee, hoffentlich kein Casanova!), mindestens so gerne wie sie las (Ja, dann habt ich euch ja wenigstens was zu erzählen) und dass sie sich heute Abend zum Essen verabredet hatten (Lass dich bloß nicht gleich aushalten, zahl besser selbst!). 

Seit gut zwei Monaten schrieben sich Annabelle und Roberto schon E-Mails, inzwischen täglich. Obwohl sie Roberto noch nie gesehen oder persönlich gesprochen hatte, begann sie, sich in ihn zu verlieben. Sie hatte keine Ahnung, ob Roberto womöglich ein verurteilter Mehrfachstraftäter war, der mit 57 Jahren noch bei seiner Mutter lebte und dem dicke Warzen auf dem Hintern wuchsen. Nach seinen E-Mails und der entstandenen Vertrautheit zwischen ihnen, schien ihr das indes unmöglich.  

Der Abend, an dem sie ihre Fotos austauschten, war furchtbar. Annabelle hatte entsetzliche Angst, sie würde Roberto nicht gefallen. Während sie auf seine Antwortmail wartete, lief sie wie ein werdender Vater, eine Zigarette nach der anderen rauchend im Wohnzimmer auf und ab. Warum war sie eigentlich so blöd gewesen, vor ihm ein Foto zu schicken? Es ging gut aus. Sie für ihren Teil war jedenfalls mit Roberto auch weiterhin zufrieden.

Vor zwei Wochen hatten sie sich zum Essen verabredet. Je näher der Tag für das erste Treffen rückte, desto nervöser und fahriger wurde Annabelle. Immer wieder saß sie in ihrem Büro und starrte verträumt aus dem Fenster. „Viel los auf dem Parkplatz?“ spottete ein Kollege. „Ich beobachte den Kraftfahrzeugmarkt“, entgegnete Annabelle geistesabwesend. Beim Kaffeekochen vergaß sie, die Glaskanne in die Kaffeemaschine zu stellen. Sie räumte die Kontoauszüge zusammen mit dem Joghurt in den Kühlschrank und betrat am Dienstag vor dem Date das Büro mit zwei unterschiedlichen Schuhen.
 

Am Mittwochabend saß sie mit Christina vor ihrem Kleiderschrank. Es dauerte ewig, bis Christina endlich zufrieden war. „Und drunter?“, fragte sie.
„Ok“, stimmte Annabelle entkräftet zu, „ich gehe morgen noch einkaufen.“

In der Dessous-Abteilung ihres Lieblingskaufhauses entdeckte sie einen Traum aus Satin. Erst in der Umkleidekabine stellte sie fest, dass sie durch die Aufregung wohl ein paar Pfunde eingebüßt hatte: Der BH war zu groß, vorne bildete sich eine Luftblase. Sie steckte den Kopf durch den Vorhang der Umkleidekabine und versuchte eine Verkäuferin heranzuwinken. Die Konsumassistentin stand etwa zehn Meter entfernt und bewegte auf Annabelles Hallo-Rufe ganz leicht den Kopf in Annabelles Richtung. „Was kann ich für sie tun?“ fragte sie genervt und ohne sich zu bewegen. Annabelle erläuterte das Problem. „Haben Sie denn auch von den Seiten schön alles reingeholt?“ brüllte die Dame bei unveränderter Distanz durch die Abteilung zurück.

Annabelle war einen Moment fassungslos. Als ihr fragender Blick auf das amüsierte Grinsen eines etwa 25-Jährigen traf, der darauf wartete, dass seine Freundin den richtigen String-Tanga fand, zog sie ihren Kopf schnell in die Umkleidekabine zurück. „Warum dürfen Männer überhaupt in die Dessous-Abteilung“, fragte sich Annabelle nicht zum ersten Mal. 

Das genervte Verkaufspersonal kehrte mit dem BH in der hoffentlich richtigen Größe zurück. Annabelle probierte ihn. Die Verkäuferin hatte offenbar auf der anderen Seite des Vorhangs gelauert. „Haben sie ihn schon an? Soll ich mal gucken?“, flötete es. Ohne Annabelles Antwort abzuwarten, riss sie den Vorhang zur Seite, gab für einen kurzen Moment den Blick auf Annabelle im BH frei und schloss den Vorhang blitzschnell hinter sich.

„Der sitzt doch sehr gut.“ säuselte es neben ihr. Beherzt griff die Verkäuferin in Annabelles BH und verteilte gekonnt um. Man kam überein, dass das Modell für Annabelle tatsächlich das richtige war.

Für den Samstag hatte sie eine gründliche Entfernung aller eventuell störenden Körperhaare geplant. Nachmittags ließ sie sich Badewasser ein. Der Badezusatz versprach, ihre Haut streichelzart pflegen. Sie glaubte es gerne. Ein Gläschen Sekt, in der Wanne genossen, würde bei den weiteren Vorbereitungen helfen. Annabelle versank im üppigen, duftenden Schaum, rauchte, trank Sekt und träumte von ihrem Date mit Roberto.

Erschrocken stellte sie fest, dass sie reichlich Zeit in der Wanne vertrödelt hatte. Jetzt aber los!

Annabelle cremte die vom langen Bad verrunzelte Haut mit einer angenehm duftenden Bodylotion ein. Sie föhnte ihr Haar unter Einsatz von vier gleichzeitig eingedrehten Bürsten zu einem wahren Wunder an Volumen und Glanz. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund und lächelte sich zufrieden im Spiegel zu. Aus dem Feuerzeug schoss eine Stichflamme, die ihr die Wimpern des linken Auges und ein wenig die Augenbraue versengte. Vorsichtig schnippelte sie die verkokelten Spitzen ihrer Augenbraue mit der Nagelschere ab. Das Malheur an den Wimpern vertuschte sie mit einer Extraschicht Mascara. Beim erneuten Versuch, eine Zigarette anzuzünden, hielt sie das Feuerzeug weit weg. Sie nahmen einen tiefen Zug. Als sie die Zigarette auf dem Waschtisch ablegen wollte, riss sie sich ein kleines Stückchen Haut von der Unterlippe ab. „Mist!“ fluchte sie laut und fühlte mit der Zunge über die Lippe. Der Rauch der abgelegten Zigarette zog ihr so ungünstig ins Auge, dass es zu Tränen begann. Die frisch aufgetragene Wimperntusche lief Annabelle über das Gesicht.

Genervt setzte Annabelle sich auf den Badewannenrand. Sie entschloss sich zu einem weiteren Glas Sekt.

Gestärkt ging sie erneut ans Werk. Das Make-up saß! „Verdaaammt!!!“, rief sie, als sie feststellte, dass die Zigarettenschachtel leer war.

Im rosa Bademantel und mit Flipflops an den Füßen, aber perfekt gestyltem Kopf huschte sie aus der Wohnung, um schnell am nächsten Zigarettenautomaten ein paar Glimmstängel zu erstehen. In dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wusste sie, dass sie den Wohnungsschlüssel vergessen hatte. Zum Glück hatte sie bei ihrer Nachbarin einen Zweitschlüssel deponiert. Aber Martina öffnete die Tür nicht. Ein Blick in den Hof bestätigte den Verdacht, dass Martina nicht zu Hause war. Auch ihr Auto stand nicht auf dem Parkplatz. 

Annabelle hockte sich auf den Treppe und hoffte, ihre Nachbarin würde bald nach Hause kommen. Sie ärgerte sich, nicht wenigstens das Sektglas mit hinaus genommen zu haben. Als aus der Wohnung über ihr die Titelmelodie der Vorabendserie, die um kurz vor 18.00 Uhr begann, ertönte, wurde sie nervös. Wo blieb bloß Martina? Wenn sie jetzt ihren Vater anrief und er sich gleich auf den Weg machen würde, könnte sie es noch schaffen. Sie nahm sich ein Herz und klingelte in der Wohnung über ihr bei Frau Müllersohn. Sie musste ein zweites Mal schellen, bevor die Tür geöffnet wurde. Frau Müllersohn ließ sich offenbar nicht gerne von der Vorabendserie abhalten. Annabelle erklärte kurz ihre missliche Lage. Frau Müllersohn drückte ihr das Telefon in die Hand, schnaubte „Ziehen Sie die Tür hinter sich zu“ und verschwand wieder im Wohnzimmer.

Sie wählte die Nummer ihrer Eltern, aber niemand hob ab. Annabelle überlegte, wo ihre Eltern sein könnten. „Dritter Freitag im Monat, die sind kegeln“, fiel es ihr ein. Was jetzt? Ihr blieb noch eine knappe Stunde. Den Schlüsseldienst? Diese Halsabschneider konnte sie sich im Moment nicht leisten. Der Einkauf der Dessous hatte bereits ein tiefes Loch in die Haushaltskasse gerissen. Wenn sie heute Abend den Rat ihres Vaters befolgen und selbst zahlen würde, würde es bis zum nächsten ersten ohnehin knapp. Sie lugte vorsichtig durch die Wohnzimmertür von Frau Müllersohn. „Haben Sie zufällig eine Ahnung, wann Frau Kramer heute nach Hause kommt?“, fragte Annabelle vorsichtig. „Nee“, kam es knapp und sehr bestimmt zurück. „Vielen Dank“, murmelte Annabelle, legte das Telefon zurück und schloss die Wohnungstür von Frau Müllersohn hinter sich.

Sie setzte sich wieder auf die Treppe und wartete auf Martinas Rückkehr. Was könnte sie sonst tun? „Warum habe ich nicht im Restaurant angerufen?“, kam ihr die rettende Idee. Sie atmete tief durch und klingelte erneut bei Frau Müllersohn. Sie öffnete schweigend die Tür, guckte Annabelle böse an und ging wortlos zurück vor den Fernseher. „Entschuldigung, hätten Sie wohl ein Telefonbuch für mich?“, traute sie sich Frau Müllersohn erneut zu stören. „Oberste Schublade“, blökte sie zurück. Fieberhaft suchte sie im Telefonbuch nach dem Restaurant, in dem sie sich verabredet hatten. Kein Eintrag! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Zeile für Zeile las sie die Einträge in der Rubrik „Gaststätten“. Vielleicht würde sie über die Straße die Telefonnummer finden. Vielleicht war es früher mal ein Restaurant Akropolis? Annabelle versuchte ihr Glück. „Restaurante Ackroppolis, Roberto an Apperat“, ertönte nach nur zweimal Klingeln eine männliche Stimme. „Oh“, entfuhr es Annabelle. Roberto?

„Hallo?“, fragte die Stimme im Hörer.

„Äh, ja, hallo. Hier ist Annabelle!“

„Ja. Bitte? Was kann tun?“, fragte der Mann schon etwas drängender.

Ihr Name hatte also nicht als Erklärung gereicht. „Ja, hallo, guten Abend. Ich möchte eigentlich mit jemandem aus dem Restaurant „Il mondo italiano“ sprechen.“, versuchte Annabelle es erneut.

„Hier Restaurante Ackroppolis, Roberto an Apperat“, wiederholte Roberto.

„Ja, danke“, sagte Annabelle und legte auf.

Aus dem Wohnzimmer von Frau Müllersohn drang der Jingle der 19.00 Uhr-Nachrichten. Annabelle brach in Tränen aus. Das Telefon noch in der Hand, verließ sie die fremde Wohnung und zog die Tür ins Schloss. Roberto würde sie sich aus dem Kopf schlagen müssen. Sie setzte sich wieder auf die Treppe. Als das Telefon in ihrer Hand klingelte, schrak sie zusammen. „Hallo? Hier ist Annabelle“, sprach sie in den Hörer und schöpfte Hoffnung. Sie hatte vergessen, dass sie das Telefon von Frau Müllersohn in der Hand hielt. „Margarete? Bist Du es?“, krächzte eine vermutlich sehr alte Frau in den Hörer. Annabelle rannte die Treppe hoch und klingelte schon wieder bei Frau Müllersohn. Als sie die Tür öffnete, drückte sie ihr den Hörer in die Hand. „Für Sie!“, sagte sie, machte kehrt und rannte die Treppe wieder runter. „Diese jungen Dinger“, wunderte sich Frau Müllersohn und verschwand mit dem Telefon in der Wohnung. 

Viel später am Abend fand Martina Annabelle schlafend auf der Treppe. „Was machst du denn hier?“, fragte sie staunend.

„Ich habe aufgehört zu rauchen“, antwortete Annabelle.

 

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