Dienstschluss

„Wolfi“, flötete Hannelore aus der Küche, „Leberwurst und Käse?“

„Gerne!“ Wolfgang kam in die Küche und küsste den Oberkopf seiner Frau, die am Küchentisch saß. Seit 37 Jahren machte sie ihm morgens die Brote für den Tag, immer mit dem gleichen Belag. Er liebte sie dafür, dass sie sich dennoch jeden Morgen versicherte.

Während er sich setzte, zupfte sie eine Fluse von der braunen, fein gestreiften Anzugweste glatt. Er schenkte sich ein Tasse Kaffee ein.

„Du könntest mal wieder zum Friseur.“ Hannelore legte den Kopf schief und sah ihren Mann kritisch an. „Ich mache einen Termin für Dich“, entschied sie. Wolfgang nickte. Seine Frau war die einzige, die Veränderungen an seinem Haarschopf bemerkte. Wolfgang trug das Haar stets sehr kurz. Seine Haare fielen ganz unabhängig von Schnitt und Styling.

Nach dem Frühstück steckte er seine Butterbrotdose in die Aktentasche. Einen Joghurt hatte Hannelore in einen Frühstücksbeutel gewickelt, damit er in der Tasche kein Unheil anrichten konnte. Die Joghurtsorte wählte Hannelore für ihn aus. Insgeheim hoffte er jeden Morgen auf einen Himbeer-Sahnejoghurt. Darüber konnte er sich freuen wie ein Schneekönig. Nicht, dass man ihm diese Freude hätte ansehen können. Für Gefühlsausbrüche jedweder Art waren Wolfgangs Gesichtszüge nicht ausgelegt. Hannelore war wohl nahezu der einzige Mensch, der seine Freude an einem leichten Kräuseln der Oberlippe ablesen konnte.

Die Tagesration komplettierte ein frisch gewaschener Apfel. Wolfgang saugte einen letzten Tropfen Wasser, der sich am Stilansatz versteckt hielt, heimlich mit dem Zipfel der Tischdecke auf. Neben den Apfel hatte Hannelore für ihn ein kleines scharfes Messer in ein Stück Küchenpapier gewickelt, damit er im Büro den Apfel in Achtel schneiden und das Kerngehäuse entfernen konnte. Er achtete beim Einpacken sorgsam darauf, dass die Unterlagen in der Tasche nicht zerknittert wurden. Hannelore hielt währenddessen seine Brille unter den Wasserhahn, um sie mit ein bisschen Spülmittel für den Tageseinsatz blitzblank zu putzen. Jeden Morgen stand Wolfgang für die Dauer der Prozedur fast bewegungslos in der Küche. Seine Frau reichte ihm die geputzte Brille, die gut ein Drittel seines Gesichts einnahm und seinen Kopf klein wirken ließ.

Hannelore begleitete ihren Mann bis zu Tür. Um sie zu küssen, musste er sich eigentlich nicht herunterbeugen. Dennoch tat er es mit einer fast übertriebenen Bewegung, vielleicht um eine körperliche Überlegenheit zu demonstrieren, die es tatsächlich nicht gab.

Lächelnd blickte Hannelore der schmalen Silhouette ihres Mannes hinterher, der bereits die Treppe hinunterging und schloss langsam die Wohnungstür.

Das Auto, ein älterer dunkelroter Passat, stand auf dem reservierten Parkplatz direkt vor dem Haus. Bevor Wolfgang einstieg, winkte er seinem Lörchen, die oben im Wohnzimmer die Gardine ein Stück zur Seite geschoben hatte, um ihrem Wolfi ein Luftküsschen zuwerfen zu können.

Wolfgang war gerne frühmorgens unterwegs. Er hasste es zunehmend, sich durch den Berufsverkehr quälen zu müssen. Zu seinem Bedauern, hatte sein Chef das Auftaktgespräch zur heutigen Kassenprüfung erst für 8:30 Uhr terminiert. Volle Straßen waren ihm damit gewiss.

 

Der kurze Wortwechsel mit seiner Frau am Morgen war zumeist das längste Gespräch des Tages.

Bevor er sich für den Außendienst qualifiziert hatte, hatte er sich viele Jahre mit einem jüngeren Kollegen das Büro geteilt. Jens Wagner war damals Ende 20 und hochgewachsen. Neben diesem breitschultrigen Kerl wirkte Wolfgang fast lächerlich klein. Die Bürogemeinschaft war für beide Parteien eine dauernde Anstrengung. Wolfgang konnte sich nur schwer konzentrieren, wenn Wagner mit lauter Stimme telefonierte oder polternd lachte. Jens Wagner hätte Wolfgang gerne von Zeit zu Zeit gekniffen – nur um ganz sicher zu gehen, dass Wolfgang ein Mensch und keine Maschine war. Es machte Wagner fast wahnsinnig, dass Wolfgang nur sprach, wenn er angesprochen wurde. Wenn er ihm eine Frage stellte, überlegte Wolfgang zunächst und fasste seine Antwort in wohl gewählte Worte. Er sprach mit ruhiger, eintöniger Stimme. Er hatte eine leicht näselnde Aussprache und die Neigung, in gewissen Worten das „e“ fast wie ein „ä“ auszusprechen.

Anfangs hatte Jens Wagner tatsächlich geglaubt, Wolfgang sei am Schreibtisch eingeschlafen. Schließlich begriff er, dass Wolfgang sich einfach sehr ökonomisch bewegte. Dies galt insbesondere dann, wenn er völlig konzentriert war und mit geschlossenen Augen ein Problem aus allen Perspektiven überdachte.

 

Wolfgangs Aufgabe war die Belegprüfung in untergeordneten Organisationen. Wo auch immer er prüfte, prüfte er allein. Während manche seiner Kollegen fast herzlich willkommen geheißen und mit Mittagsimbiss und Getränken bewirtet wurden, saß Wolfgang stets solo in einem oft muffigen Büro oder Aktenraum. Diese Form der Unterbringung entsprach allerdings auch viel eher seinem Naturell, als ein helles, modernes Zimmer. Wolfgang fühlte sich wohl zwischen alten Akten. Er liebte den Geruch jahrzehntealten Papiers.

In manchen Verwaltungen erhielt er einen Gutschein für die Mittagsverpflegung in der Kantine. Sein Dienstherr hatte das Annehmen dieser Vergünstigung ausdrücklich erlaubt, obwohl es sich eindeutig um einen geldwerten Vorteil handelte, der auch als Bestechungsversuch hätte ausgelegt werden können. Sein Vorgesetzter war in schallendes Gelächter ausgebrochen, als Wolfgang seine Bedenken vortrug. Sein Chef hielt es für ausgeschlossen, dass Kantinenessen ein Vorteil sein könnte. Wolfgang bevorzugte ohnehin die mitgebrachten Brote, die ihm Hannelore mit Hingabe zubereitete.

An diesem Montag war der Verkehr, wie um diese Uhrzeit zu erwarten, mörderisch. Er hatte den Eindruck, als seien viele Autofahrer zu Wochenbeginn nervöser und ungeduldiger, obwohl sie nach dem Wochenende doch erholter und gelassener sein müssten.

 

Kurz nachdem Wolfgang auf die Autobahn gefahren war, stand er im Stau. Zunächst ging es im Schritttempo ab und an vorwärts. Wolfgang guckte immer wieder nervös zur Uhr. Es würde schwierig werden, rechtzeitig das Ziel zu erreichen. Um viertel vor acht kam der Verkehr völlig zum Erliegen.

Wolfgang hatte seinen Wagen auf der rechten Fahrspur so positioniert, dass links von ihm ausreichend Platz für Einsatzfahrzeuge blieb. Wolfgang war der Einzige, der eine Gasse bildete.

Die Staumeldungen im Anschluss an die Nachrichten um acht Uhr bestätigten die schlimmsten Befürchtungen. Es hatte einen schweren Unfall gegeben; die Räumungsarbeiten würden noch Zeit in Anspruch nehmen, der Stau war auf acht Kilometer angeschwollenen. Man empfahl eine Umleitung. Die ersten Neugierigen stiegen bereits aus ihren Autos und liefen Zigarette rauchend über die Fahrbahn. Unverantwortlich und gefährlich, wie Wolfgang fand. Wolfgang war noch mindestens drei Kilometer von der nächsten Abfahrt entfernt. Bei dem Gedanken, nicht pünktlich sein zu können, wurde ihm übel. Er ärgerte sich, nicht zur gewohnten Zeit losgefahren zu sein. Besser wäre es gewesen, am Ziel noch eine Stunde im Auto zu warten. Er hätte die Akten noch mal in Ruhe durchgehen und seine Notizen studieren können.

 

Dieser Stau war weder für Wolfgangs Nerven, noch für die Maschine seines Wagens gut. Von den schädlichen Umweltbelastungen durch laufende Motoren ganz zu schweigen. Von Zeit zu Zeit ergab sich die Möglichkeit, einen Meter vorzufahren. Wolfgang startete dann seinen Wagen und fuhr die kurze Strecke, um sich seinem Vordermann wieder anzuschließen. Was, wenn er jetzt nicht bremsen, sondern das Gaspedal durchtreten würde? Einfach weiterfahren und alles vor ihm von der Straße schieben! Wolfgang schüttelte den Kopf und wunderte sich über seine merkwürdigen Ideen. Der Fahrer im Wagen neben ihm starrte ihn an, als habe er Wolfgangs Gedanken gelesen. Entschuldigend lächelte Wolfgang.

Endlich kam die Abfahrt in Sicht! Die meisten Autofahrer vor ihm hatten sich ebenfalls entschieden, von der Autobahn abzufahren und die Ausweichstrecke zu nutzen. Das würde unweigerlich zu einem zweiten Stau auf der Landstraße führen.

Während Wolfgang in der Ausfahrt an der roten Ampel wartete, rieb er sich das Kinn. Wie sollte er diese Quälerei noch fast zehn Jahre aushalten?

Beim Streichen über das Kinn spürt er eine deutliche Erhebung auf der rechten Wange, ungefähr in Höhe des rechten oberen Backenzahns. Er tastet die Stelle ab und ahnte, dass dort eine Hautunreinheit zu einem Pickel heranwuchs. Die Ampel sprang auf Grün, er musste die Untersuchung abbrechen.

Nur langsam bewegte sich die Blechlawine vorwärts. Die Fahrzeuge, die aus Seitenstraßen zu den Staufahrern stießen, verursachten zusätzliche Stockungen.

Wolfgang war durch den Pickel abgelenkt. Immer wieder musste er mit zwei Fingern über die Erhebung fahren. Er hätte zu gerne gewusst, ob der Pickel schon reif war, um ihn auszudrücken. 

Die Karawane näherte sich langsam einem einspurigen Kreisverkehr. Um die Fahrspur für LKW breit genug zu halten, hatte man fast den gesamten Kreis asphaltiert. Übriggeblieben war eine Mittelinsel von zwei Metern Durchmessern, die man mit Steinen gepflastert hatte. Wolfgang hätte sich Geranien gewünscht.

Wie gerne hätte er sich der Pustel gewidmet. Zu sehr an den Gedanken auf das Ausdrücken des Pickels und zu wenig auf den Verkehr konzentriert, rutschte Wolfgang von der Kupplung. Sein Auto macht einen kleinen Satz nach vorne, während der Motor ausging. Wolfgang hatte Glück, nicht mit dem Wagen im Heck des Vordermanns gelandet zu sein.

„Wie peinlich“, dachte Wolfgang. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und sich seine Gesichtshaut dunkelrot verfärbt. Auch im Kreisverkehr ging es nur im Schneckentempo weiter. Einen Meter nach vorne, anhalten, wieder einige Zentimeter weiter, anhalten. Dieser Verkehr machte es Wolfgang unmöglich, sich weiter seinem dringendstem Problem zu widmen.

Kurz entschlossen lenkte er seinen Wagen zur Mitte des Kreisverkehrs. Er hielt an, als er mit zwei Reifen auf der Mittelinsel stand. Er blockierte damit nur einen Teil der Fläche, die große LKW und Busse brauchten, um die Kurve nehmen zu können. Auf den Schutz der Umwelt bedacht, schaltete er den Motor aus. Das Auto hinter ihm hupte und der Fahrer zeigte im einen Vogel. Wolfgang lächelte ihn freundlich an. Endlich hatte er die Möglichkeit, sich mit seinem Pickel zu beschäftigen. Ein prüfender Blick über den Rückspiegel bestätigte, dass er es mit der Entfernung der Pustel versuchen könnte. Lieber mit einem roten Flatschen im Gesicht herumlaufen, als mit einem Pickel, der bereits sein gelbes Köpfchen zeigte!

Er rutschte im Sitz nach vorne, um sich besser im Rückspiegel sehen zu können. Mit den Zeigefingern drückte der die Haut zusammen. Zu seinem eigenen Erstaunen empfand er keinerlei Scham. Fast alle Fahrer glotzten ihn an, während sie sich langsam an ihm vorbeischoben. Eine junge Frau wendete sich mit vor Ekel verzogenem Gesicht ab.

Um die Operationsspuren zu beseitigen, brauchte Wolfgang ein Papiertaschentuch. Ihm fiel das Küchentuch ein. Vorsichtig zog er die Proviantdosen, Apfel, Joghurt und Zubehör aus seiner Aktentasche. Mit dem Küchenpapier tupft er vorsichtig die kleine Wunde ab.

Zufrieden lehnte er in seinem Sitz zurück und betrachtete die vielen Autos, die sich langsam und unaufhörlich an ihm vorbeischlängelten. Ein LKW-Fahrer hatte Mühe, die Kurve zu nehmen und kam Wolfgangs Wagen verdächtig nah. Er schaffte es und gestikulierte wild, um Wolfgang klar zu machen, dass sein Standort äußerst schlecht gewählt war. Wolfgang zuckte entschuldigend mit den Achseln und lächelte.

Schon längst hätte er den Wagen wieder starten und in die Schlange einreihen können. Aber er fühlte sich sehr wohl in seinem Auto, auf seinem Tribünenplatz. Er betrachtete die zumeist völlig genervten Wagenlenker. Aus manchen Autos drang die Musik so laut, dass er hätte mitsingen können. Keine Sekunde dachte er mehr daran, dass er anderenorts erwartet wurde. Kein Gedanke an seine Arbeit oder an sein Lörchen. Sein Kopf schien angenehm leer, erleichtert um das Vermögen geistiger Arbeit.

Nachdem er eine Stunde so in seinem Wagen gesessen hatte, verspürte er Hunger. Wolfgang öffnete die Brotdose und aß genüsslich zunächst ein Käse- und anschließend ein Leberwurstbrot.

Der Verkehr um ihn herum nahm ab. Gegen 10.30 Uhr passieren kaum noch Fahrzeuge den Kreisverkehr. Vermutlich hatte man die Unfallstelle inzwischen geräumt und die Autobahn war wieder frei. 

Wolfgang blieb regungslos in seinem Auto sitzen, lächelte und betrachtete das Leben außerhalb seines Wagens wie einen Film. Ab und an wurde gehupt und Wolfgang wurde mit unmissverständlichen Handzeichen bedeutet, dass der gewählte Parkplatz ungünstig war. Wolfgang reagierte mit dem stets gleichen freundlichen Lächeln und einem bedauernden Schulterzucken.

Um 12.00 Uhr packt er das Mittagsmahl aus und aß mit Appetit zwei weitere belegte Brote. Anschließend zerteilte er den Apfel. Nachdem das Küchentuch nicht mehr zu gebrauchen war, schnitt er das Kerngehäuse in die Brotdose. Nach und nach aß er den geachtelten Apfel und kaute jeden Bissen gründlich.

Die Sonne war herausgekommen und die Temperatur im Auto hatte merklich zugenommen. Wolfgang wurde warm, aber er kam nicht auf die Idee, den leichten Mantel und das Anzugjackett auszuziehen. Wie erstarrt blieb er im Auto sitzen. Schweißperlen traten auf seine Stirn, während er lächelnd weiter das nun wieder zunehmende Treiben um ihn herum betrachtete. Er lächelte auch noch, als die Polizei ihn gegen 15.30 Uhr schweißgebadet aus dem Auto zog.

„Ich habe meinen Joghurt noch nicht gegessen“, erklärte er dem Beamten, bevor er pünktlich zum Dienstschluss das Bewusstsein verlor.

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