„Schnell! Sie sind gerade auf den Parkplatz gefahren.“ Elisabeth scheuchte Luc zuerst aus der Küche und dann aus der Wohnung. „Ich klingele durch, wenn sie weg sind“, flüsterte sie. Luc fuchtelte unzufrieden mit den Armen. „Willst Du diesem Theater nicht endlich ein Ende machen?“, fragte er. Elisabeth schüttelte den Kopf, während sie leise die Tür hinter ihm schloss.
Gut zwei Stunden später klingelte Lucs Telefon. „Hast Du noch von diesem Eis, das uns so gar nicht geschmeckt hat? Sabrina und Hajo fragen nach einem zweiten Dessert.“
„Ich wollte dieses fiese Zeug eigentlich schon weggeworfen haben.“ Luc kicherte. „Ich bringe es Dir gleich vorbei. Für zwei Portionen reicht es noch leicht.“
Sie erwartete ihn an der Wohnungstür. „Psst. Die beiden sind im Wohnzimmer und gucken einen schrecklichen Krimi“, flüsterte Elisabeth und scheuchte Luc sanft in die Küche. Elisabeth hatte liebevoll den Tisch für ein gemeinsames Nachtmahl gedeckt.
„Ist es Dir recht, wenn wir hier essen?“, fragte sie. „Natürlich. Das Esszimmer überlassen wir wie immer Deiner Tochter und ihrem Mann. Die Arbeit, die die beiden Dir fast jedes Wochenende machen, ist sowieso schon…“. Luc rang nach den richtigen Worten. „Lass gut sein und setz Dich. Es kann gleich losgehen“, beschwichtigte Elisabeth.
Das Essen, das Elisabeth für Tochter und Schwiegersohn gezaubert hatte, war wie immer exquisit. Fast an jedem Wochenende reisten die beiden ein paar hundert Kilometer an, um sich bei Elisabeth durchzufressen. Unverschämt war das. Und rücksichtslos. Luc wurde zornig, wenn er nur an Sabrina und ihren Mann Hajo dachte. Persönlich kennengelernt hatte er sie nie.
„Wie bist Du bloß an diese Tochter gekommen?“, hatte Luc sich einmal zu fragen getraut. „Früher war sie wirklich ein liebenswertes Mädchen“, erklärte Elisabeth. „Hajo hat keinen guten Einfluss auf sie. Erst seit sie ihn kennt, ist sie so. Was soll ich machen? Sie hat ihn sich ausgesucht.“
Zur Strafe hatte Luc mit Hajos Zahnbürste die Kalkablagerungen rund um die Waschtischarmatur im Badezimmer geschrubbt. Mit dem Ergebnis zufrieden hatte er die Zahnbürste kurz unter einem Wasserstrahl abgespült und zurück ins Glas gestellt.
Luc war Elisabeths Geheimnis. Seit vielen Jahren wohnten sie im gleichen Haus. Mehr als ein „Guten Tag“ im Hausflur oder auf der Straße hatte sie nie gewechselt.
Kennengelernt hatten sie sich erst als Elisabeths Mann Hans-Günther schon tot war. Eine Freundin hatte Elisabeth damals gedrängt, zu einem Treffen von Hobbyköchen zu gehen. „Das wird Dir gut tun. Dann kommst Du mal raus“, hatte sie gesagt.
Luc war Gründungsmitglied. Als gebürtiger Niederländer fühlte er sich vielen Küchen verbunden. Nachdem er sich in einem Amsterdamer Restaurant unsterblich in eine Karibikschönheit verliebt hatte, hatte er eine Zeit auf Curaçao gelebt. Dieser Liebe waren andere gefolgt und Luc gelang das Kunststück, auch ohne regelmäßiges Einkommen ein gutes Auskommen zu haben. In erstaunlicher Geschwindigkeit hatte er die Landessprache Papiamentu gelernt, die eine wunderbare Symbiose aus spanisch, niederländisch, englisch und portugiesisch war. Von Zeit zu Zeit wurde er als Dolmetscher gebraucht. Wichtiger als diese Arbeit waren jedoch die Kontakte, auf deren Pflege Luc großen Wert legte. Luc war damals quasi der Nachrichtendienst von Willemstad. Neuigkeiten hatte er am liebsten morgens, mittags und abends überbracht. Häufig genug war er zum Essen eingeladen worden. Er hatte ein fürstliches Leben gelebt.
Irgendwann hatte er genug gehabt und so war Luc zurück nach Europa zurückgekehrt. Viele Jahre hatte er an der Côte d’Azur gelebt. Neben schönen Frauen hatte er die Geheimnisse der französischen Küche kennengelernt. Warum es ihn ausgerechnet nach Deutschland verschlagen hatte, blieb Lucs Geheimnis. „Manchmal spielt einem das Leben einen Streich“, sagte er auf Nachfragen und lächelte. „Ich bin sehr glücklich hier.“
Luc war groß und schlaksig. „Ich glaube, Dich haben sie bei der Geburt aus Versehen zu lang gezogen“, vermutete Elisabeth, wenn sie vor ihm stand und den Kopf recht weit in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
Lucs Augen waren sehr blau. Die Farbe wirkte fast unnatürlich. Die Augen lenkten von der krummen Nase („Ach, da war mal so eine Sache in Amsterdam“) und der Narbe am Kinn („Unfall mit dem Dreirad“) ab. Mit seinem Charme konnte Luc fast jeden um den Finger wickeln. Wenn er sein spitzbübisches Lächeln aufsetzte, verzieh man ihm noch vor der Beichte.
Als er Elisabeth das erste Mal in die Augen sah, ging sein Blick so tief, dass Elisabeth ihren verlegen abwenden musste. Das war nun ungefähr fünf Jahre her.
Immer, wenn Sabrina und ihr Mann kamen, veranstalte Elisabeth das gleiche Theater. Luc musste die Wohnung verlassen, während Elisabeth sich beide Beine ausriss, um für Tochter und Schwiegersohn Menus zu zaubern, die mindestens einen Stern im Guide Michelin verdient hätten. Die beiden nahmen Elisabeth hemmungslos aus. Bei jedem Besuch durchsuchten sie die Wohnung nach Wertsachen. „Andenken an ihren Vater“, korrigierte Elisabeth. Luc war sich jedoch sicher, dass sie nur mitnahmen, was sich zu Geld machen ließ. Zuletzt hatten sie Elisabeth sogar das Auto abgeluchst.
Einmal hatte Luc es nicht rechtzeitig aus der Wohnung geschafft. Bis die beiden endlich zu einem Treffen mit Freunden aufbrachen, hatte er in der Küche gehockt, immer bereit, sich in der angrenzenden Abstellkammer zu verstecken. Ein Gang in die Küche hätte vorausgesetzt, dass Sabrina ihrer Mutter hätte zur Hand gehen wollen. Elisabeths Tochter kam nicht auf diese Idee.
Ein anderes Mal hatte Luc es provoziert, in Elisabeths Wohnung bleiben zu müssen. Es wurde ein vergnügter Abend. Während Elisabeth Suppen und Soßen rührte, hatte Luc dafür gesorgt, dass Elisabeths Champagnerglas nicht leer wurde. Die Gefahr, entdeckt zu werden, prickelte mindestens wie der Champagner. Elisabeth kicherte so ausgelassen über Lucs Witze, dass sie hätten auffliegen müssen. Sabrina und Hajo waren wie immer so mit sich selbst beschäftigt, dass sie auch nicht bemerkten, dass Elisabeths Gesicht von Champagner und Freude glühte.
Anfangs hatte Elisabeth Sorge gehabt, ihre Tochter könnte gekränkt sein, wenn sie nach dem Tod ihres Vaters von dem neuen Mann in Elisabeths Leben erführe.
Später wollte sie sich die Freude, die sie mit Luc erlebte, nicht von Sabrina verderben lassen. Das wäre Sabrina zweifellos gelungen. Nach ihrer anschaulichen Gardinenpredigt über Arterienverkalkung und Cholesterinwerte war Elisabeth für eine Zeit sogar die Lust auf Pizza von ihrem Lieblingsitaliener vergangen.
Hans-Günther war ein paar Jahre tot, als Elisabeth und Luc zufällig entdeckten, dass Hans-Günther ein heimlicher Sparstrumpfsparer war.
Elisabeth hatte die Abstellkammer hinter der Küche aufgeräumt und die Vorräte überprüft. An den Kauf einer Dose „Seelenwärmer“ hatte sie sich nicht erinnern können. Sie hatte sie daher in die Küche gestellt. Als Luc die Dose öffnen wollte, schien sie ihm merkwürdig leicht. Er öffnete die Konserve und beförderte ein dickes Bündel Geldscheine ans Tageslicht.
Elisabeth musste sich setzen. „Und ich habe immer so geschimpft, wenn er zum Pferderennen ging.“
Ein weiteres Durchforsten der Konserven deckte fünfzehn weitere Verstecke auf. Hans-Günther hatte sein Geldvermögen fein säuberlich in Dosen verschließen und phantasievolle Etiketten anfertigen lassen. Neben Seelenwärmern gab es zum Beispiel die Sorten „Vogelfrei – die besondere Kraftbrühe“, „Liebestrank“ und „Klare Brühe mit Glücksklößchen“.
Das Vermögen, das Hans-Günther verborgen hatte, war erheblich. Fast hundertdreißigtausend Euro hatten sie gefunden. Ihrer Tochter hatte Elisabeth nichts von Reserven ihres Vaters erzählt. Sie kannte ihre Tochter schließlich und wusste, dass Sabrina das gesamte Bargeld mitgenommen hätte.
„Warum glaubst Du, hat Dein Mann sein Geld in Konservendosen in der Küche versteckt? Er wollte, dass Du es findest und nicht Deine Tochter“, beschwichtigte Luc Elisabeths schlechtes Gewissen. „Jetzt kaufst Du Dir erst mal eine neue Küche!“, schlug er vor und hatte gleich viele Ideen zur Umsetzung parat. „Was Du nicht brauchst und übrig bleibt, erbt sie sowieso“, stellte Luc fest und beendete damit die Diskussion.
Der überraschende Reichtum erlaubte Elisabeth ein bequemes Leben. Seit Elisabeth kein Auto mehr hatte, gönnten sie und Luc sich nach dem Theaterbesuch ein Taxi. „Ich glaube mein Blut braucht ein bisschen Würze“, leitete Elisabeth regelmäßig den Vorschlag ein, mal wieder zum Lieblingsitaliener zu gehen.
Etwas seltener besuchten Elisabeth und Luc das kleine französische Restaurant, in dem Luc so gerne mit dem Maître über das Leben an der Côte d’Azur schwadronierte.
Dass ihre Tochter ihr vor zwei Jahren eine Tüte Zwieback zum Geburtstag geschenkt hatte, bestätigte sie in ihrer Entscheidung, Sabrina nicht alles zu erzählen. Luc, Koch-Club und Geldsegen sollten ihr Geheimnis bleiben.
Das schöne, unbeschwerte Leben, das sie gemeinsam mit Luc genießen konnte, ließ sie beim Gedanken an die Besuche ihrer Tochter gelassen bleiben.
„Ach“, hatte sie erst kürzlich zu Luc gesagt, „ich bin doch schließlich die einzige Mutter, die dieses Kind aushalten kann.“
…das hört sich wieder mal sehr spannend an, da kommen trotz Stress immer wieder die Muttergefühle hoch, gut das LUC da ist und somit das Leben erträglich komfortabel ist….weiter so.