Orientierung

gestern

wollte ich nach oben sehen,

aber oben war nicht da

ich suchte rechts und ich suchte links.

ich konnte oben nicht finden.

als ich unten nach oben sehen wollte,

war auch unten weg.

solange ich nicht weiß,

wo oben und unten sind,

könnte ich daneben sein.

Es ist eine Tochter

„Schnell! Sie sind gerade auf den Parkplatz gefahren.“ Elisabeth scheuchte Luc zuerst aus der Küche und dann aus der Wohnung. „Ich klingele durch, wenn sie weg sind“, flüsterte sie. Luc fuchtelte unzufrieden mit den Armen. „Willst Du diesem Theater nicht endlich ein Ende machen?“, fragte er. Elisabeth schüttelte den Kopf, während sie leise die Tür hinter ihm schloss.

Gut zwei Stunden später klingelte Lucs Telefon. „Hast Du noch von diesem Eis, das uns so gar nicht geschmeckt hat? Sabrina und Hajo fragen nach einem zweiten Dessert.“

„Ich wollte dieses fiese Zeug eigentlich schon weggeworfen haben.“ Luc kicherte. „Ich bringe es Dir gleich vorbei. Für zwei Portionen reicht es noch leicht.“

Sie erwartete ihn an der Wohnungstür. „Psst. Die beiden sind im Wohnzimmer und gucken einen schrecklichen Krimi“, flüsterte Elisabeth und scheuchte Luc sanft in die Küche. Elisabeth hatte liebevoll den Tisch für ein gemeinsames Nachtmahl gedeckt.

„Ist es Dir recht, wenn wir hier essen?“, fragte sie. „Natürlich. Das Esszimmer überlassen wir wie immer Deiner Tochter und ihrem Mann. Die Arbeit, die die beiden Dir fast jedes Wochenende machen, ist sowieso schon…“. Luc rang nach den richtigen Worten. „Lass gut sein und setz Dich. Es kann gleich losgehen“, beschwichtigte Elisabeth.

Das Essen, das Elisabeth für Tochter und Schwiegersohn gezaubert hatte, war wie immer exquisit. Fast an jedem Wochenende reisten die beiden ein paar hundert Kilometer an, um sich bei Elisabeth durchzufressen. Unverschämt war das. Und rücksichtslos. Luc wurde zornig, wenn er nur an Sabrina und ihren Mann Hajo dachte. Persönlich kennengelernt hatte er sie nie.

„Wie bist Du bloß an diese Tochter gekommen?“, hatte Luc sich einmal zu fragen getraut. „Früher war sie wirklich ein liebenswertes Mädchen“, erklärte Elisabeth. „Hajo hat keinen guten Einfluss auf sie. Erst seit sie ihn kennt, ist sie so. Was soll ich machen? Sie hat ihn sich ausgesucht.“

Zur Strafe hatte Luc mit Hajos Zahnbürste die Kalkablagerungen rund um die Waschtischarmatur im Badezimmer geschrubbt. Mit dem Ergebnis zufrieden hatte er die Zahnbürste kurz unter einem Wasserstrahl abgespült und zurück ins Glas gestellt.

Luc war Elisabeths Geheimnis. Seit vielen Jahren wohnten sie im gleichen Haus. Mehr als ein „Guten Tag“ im Hausflur oder auf der Straße hatte sie nie gewechselt.

Kennengelernt hatten sie sich erst als Elisabeths Mann Hans-Günther schon tot war. Eine Freundin hatte Elisabeth damals gedrängt, zu einem Treffen von Hobbyköchen zu gehen. „Das wird Dir gut tun. Dann kommst Du mal raus“, hatte sie gesagt.

Luc war Gründungsmitglied. Als gebürtiger Niederländer fühlte er sich vielen Küchen verbunden. Nachdem er sich in einem Amsterdamer Restaurant unsterblich in eine Karibikschönheit verliebt hatte, hatte er eine Zeit auf Curaçao gelebt. Dieser Liebe waren andere gefolgt und Luc gelang das Kunststück, auch ohne regelmäßiges Einkommen ein gutes Auskommen zu haben. In erstaunlicher Geschwindigkeit hatte er die Landessprache Papiamentu gelernt, die eine wunderbare Symbiose aus spanisch, niederländisch, englisch und portugiesisch war. Von Zeit zu Zeit wurde er als Dolmetscher gebraucht. Wichtiger als diese Arbeit waren jedoch die Kontakte, auf deren Pflege Luc großen Wert legte. Luc war damals quasi der Nachrichtendienst von Willemstad. Neuigkeiten hatte er am liebsten morgens, mittags und abends überbracht. Häufig genug war er zum Essen eingeladen worden. Er hatte ein fürstliches Leben gelebt.

Irgendwann hatte er genug gehabt und so war Luc zurück nach Europa zurückgekehrt. Viele Jahre hatte er an der Côte d’Azur gelebt. Neben schönen Frauen hatte er die Geheimnisse der französischen Küche kennengelernt. Warum es ihn ausgerechnet nach Deutschland verschlagen hatte, blieb Lucs Geheimnis. „Manchmal spielt einem das Leben einen Streich“, sagte er auf Nachfragen und lächelte. „Ich bin sehr glücklich hier.“

Luc war groß und schlaksig. „Ich glaube, Dich haben sie bei der Geburt aus Versehen zu lang gezogen“, vermutete Elisabeth, wenn sie vor ihm stand und den Kopf recht weit in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Lucs Augen waren sehr blau. Die Farbe wirkte fast unnatürlich. Die Augen lenkten von der krummen Nase („Ach, da war mal so eine Sache in Amsterdam“) und der Narbe am Kinn („Unfall mit dem Dreirad“) ab. Mit seinem Charme konnte Luc fast jeden um den Finger wickeln. Wenn er sein spitzbübisches Lächeln aufsetzte, verzieh man ihm noch vor der Beichte.

Als er Elisabeth das erste Mal in die Augen sah, ging sein Blick so tief, dass Elisabeth ihren verlegen abwenden musste. Das war nun ungefähr fünf Jahre her.

Immer, wenn Sabrina und ihr Mann kamen, veranstalte Elisabeth das gleiche Theater. Luc musste die Wohnung verlassen, während Elisabeth sich beide Beine ausriss, um für Tochter und Schwiegersohn Menus zu zaubern, die mindestens einen Stern im Guide Michelin verdient hätten. Die beiden nahmen Elisabeth hemmungslos aus. Bei jedem Besuch durchsuchten sie die Wohnung nach Wertsachen. „Andenken an ihren Vater“, korrigierte Elisabeth. Luc war sich jedoch sicher, dass sie nur mitnahmen, was sich zu Geld machen ließ. Zuletzt hatten sie Elisabeth sogar das Auto abgeluchst.

Einmal hatte Luc es nicht rechtzeitig aus der Wohnung geschafft. Bis die beiden endlich zu einem Treffen mit Freunden aufbrachen, hatte er in der Küche gehockt, immer bereit, sich in der angrenzenden Abstellkammer zu verstecken. Ein Gang in die Küche hätte vorausgesetzt, dass Sabrina ihrer Mutter hätte zur Hand gehen wollen. Elisabeths Tochter kam nicht auf diese Idee.

Ein anderes Mal hatte Luc es provoziert, in Elisabeths Wohnung bleiben zu müssen. Es wurde ein vergnügter Abend. Während Elisabeth Suppen und Soßen rührte, hatte Luc dafür gesorgt, dass Elisabeths Champagnerglas nicht leer wurde. Die Gefahr, entdeckt zu werden, prickelte mindestens wie der Champagner. Elisabeth kicherte so ausgelassen über Lucs Witze, dass sie hätten auffliegen müssen. Sabrina und Hajo waren wie immer so mit sich selbst beschäftigt, dass sie auch nicht bemerkten, dass Elisabeths Gesicht von Champagner und Freude glühte.

Anfangs hatte Elisabeth Sorge gehabt, ihre Tochter könnte gekränkt sein, wenn sie nach dem Tod ihres Vaters von dem neuen Mann in Elisabeths Leben erführe.

Später wollte sie sich die Freude, die sie mit Luc erlebte, nicht von Sabrina verderben lassen. Das wäre Sabrina zweifellos gelungen. Nach ihrer anschaulichen Gardinenpredigt über Arterienverkalkung und Cholesterinwerte war Elisabeth für eine Zeit sogar die Lust auf Pizza von ihrem Lieblingsitaliener vergangen.

Hans-Günther war ein paar Jahre tot, als Elisabeth und Luc zufällig entdeckten, dass Hans-Günther ein heimlicher Sparstrumpfsparer war.

Elisabeth hatte die Abstellkammer hinter der Küche aufgeräumt und die Vorräte überprüft. An den Kauf einer Dose „Seelenwärmer“ hatte sie sich nicht erinnern können. Sie hatte sie daher in die Küche gestellt. Als Luc die Dose öffnen wollte, schien sie ihm merkwürdig leicht. Er öffnete die Konserve und beförderte ein dickes Bündel Geldscheine ans Tageslicht.

Elisabeth musste sich setzen. „Und ich habe immer so geschimpft, wenn er zum Pferderennen ging.“

Ein weiteres Durchforsten der Konserven deckte fünfzehn weitere Verstecke auf. Hans-Günther hatte sein Geldvermögen fein säuberlich in Dosen verschließen und phantasievolle Etiketten anfertigen lassen. Neben Seelenwärmern gab es zum Beispiel die Sorten „Vogelfrei – die besondere Kraftbrühe“, „Liebestrank“ und „Klare Brühe mit Glücksklößchen“.

Das Vermögen, das Hans-Günther verborgen hatte, war erheblich. Fast hundertdreißigtausend Euro hatten sie gefunden. Ihrer Tochter hatte Elisabeth nichts von Reserven ihres Vaters erzählt. Sie kannte ihre Tochter schließlich und wusste, dass Sabrina das gesamte Bargeld mitgenommen hätte.

„Warum glaubst Du, hat Dein Mann sein Geld in Konservendosen in der Küche versteckt? Er wollte, dass Du es findest und nicht Deine Tochter“, beschwichtigte Luc Elisabeths schlechtes Gewissen. „Jetzt kaufst Du Dir erst mal eine neue Küche!“, schlug er vor und hatte gleich viele Ideen zur Umsetzung parat. „Was Du nicht brauchst und übrig bleibt, erbt sie sowieso“, stellte Luc fest und beendete damit die Diskussion.

Der überraschende Reichtum erlaubte Elisabeth ein bequemes Leben. Seit Elisabeth kein Auto mehr hatte, gönnten sie und Luc sich nach dem Theaterbesuch ein Taxi. „Ich glaube mein Blut braucht ein bisschen Würze“, leitete Elisabeth regelmäßig den Vorschlag ein, mal wieder zum Lieblingsitaliener zu gehen.

Etwas seltener besuchten Elisabeth und Luc das kleine französische Restaurant, in dem Luc so gerne mit dem Maître über das Leben an der Côte d’Azur schwadronierte.

Dass ihre Tochter ihr vor zwei Jahren eine Tüte Zwieback zum Geburtstag geschenkt hatte, bestätigte sie in ihrer Entscheidung, Sabrina nicht alles zu erzählen. Luc, Koch-Club und Geldsegen sollten ihr Geheimnis bleiben.

Das schöne, unbeschwerte Leben, das sie gemeinsam mit Luc genießen konnte, ließ sie beim Gedanken an die Besuche ihrer Tochter gelassen bleiben.

„Ach“, hatte sie erst kürzlich zu Luc gesagt, „ich bin doch schließlich die einzige Mutter, die dieses Kind aushalten kann.“

 

Familiensinn

„Gott sei Dank, wir scheinen heute ohne Stau durchzukommen!“ Sabrina lächelte zufrieden. „Mutter wird sicher schon das Essen fertig haben.“

„Ja, ich habe auch einen Mordshunger. Ich brauche in der Filiale nicht lang. Hirschfelder ist sicher schon zu Hause bei Frau und Kind und wird mich nicht aufhalten. Da kann ich schnell ein paar Vorräte einpacken und schon sind wir zurück auf der Autobahn.“ Im nächsten Moment steuerte Hajo auf den Parkplatz der Filiale, die er für heute zur Kontrolle ausgesucht hatte. Als Regionalleiter oblag es ihm, regelmäßig die Filialen in seinem Bezirk zu kontrollieren. Drei Filialen lagen auf dem Weg zu seiner Schwiegermutter. So konnten er und Sabrina unterwegs kurz halten und er machte einen Abstecher in die Filiale. So spät am Freitagnachmittag war nur noch selten ein Mitarbeiter anzutreffen. Das bot die Gelegenheit, ungestört die Büroartikel für sich und Sabrina auffüllen. Um den Schein zu wahren, kritzelte er am Ende seines Besuchs ein paar Notizen auf einen Zettel, den er auf dem Schreibtisch des Filialleiters zurückließ. Hierdurch konnte Hajo eine Kilometerpauschale für die Fahrt zur Filiale geltend machen. Die Fahrtzeit verbuchte er als Arbeitszeit. „Eine echte Win-Win-Win-Situation“, scherzte Hajo gerne „Kilometergeld, Überstunden und obendrein ein Streifzug durch das Lager – ich bin halt der Gewinnertyp.“

Streng genommen war Hajo ein Dieb und Betrüger, das wusste Sabrina. Dennoch bewunderte sie ihn für seine Kaltschnäuzigkeit. Sie wusste, es war an den Haaren herbeigezogen, doch wenn sie im Auto auf Hajos Rückkehr von seinem „Einkaufsbummel“ durch das Lager wartete, bildete sie sich gerne ein, sie sei Bonnie, die auf ihren Clyde wartete. Dass das Auto ordentlich geparkt, der Motor aus und die Beute aus Kopierpapier, Druckerpatronen und gelegentlich auch Toilettenpapier und Reinigungsmitteln bestand, war nebensächlich.

Seit Hajo versetzt worden war, wohnten sie fast zwei Autostunden von Sabrinas Mutter entfernt. Für Hajo war die Versetzung ein notwendiges Übel auf der Karriereleiter. Damit man nicht vergaß, ihn wieder zurück an den Hauptsitz der Firma zu holen, achtete er peinlich auf regelmäßigen Kontakt zu seinem Chef. Dass sie die Wochenenden bei Sabrinas Mutter verbringen konnten, dort immer ein Bett und eine warme Mahlzeit vorfanden, war auch für Hajo eine angenehme Begleiterscheinung.

Sabrina rühmte sich mit den häufigen Besuchen bei ihrer Mutter. Neuen Bekanntschaften gegenüber versäumte sie es nie zu erwähnen, dass für ihre Mutter die Besuche ihres einzigen Kindes das Lebenselixier waren – vor allem seit dem Tod von Sabrinas Vater. „Mutter Theresa“ neckte Hajo Sabrina. Tatsächlich war er stolz auf Sabrina. Sie hatte die Sache mit ihrer Mutter sehr gut im Griff. Elisabeth hatte großes Glück mit Tochter und Schwiegersohn, da waren sich Sabrina und Hajo einig.

Hajos Eltern waren seit vier Jahren tot. Ein halbes Jahr, nachdem sein Vater einem Herzinfarkt erlegen war, starb auch seine Mutter. Danach hatte er sich um alles gekümmert. Es hatte ihn zeitlich sehr in Anspruch genommen, das Haus zu durchforsten. Viel hatte er nicht gefunden, was sich gut verkaufen ließ. Seine Geschwister beteiligte er sogar mit einem kleinen Anteil an den Verkaufserlösen. Trotzdem hatte er sie seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Inzwischen war jeglicher Kontakt abgebrochen. „Undank ist der Welten Lohn“, hatte auch Sabrina bestätigt.

„Weißt Du, was Deine Mutter vorbereitet hat?“, fragte Hajo während ihm beim Gedanken an das bevorstehende Essen das Wasser im Mund zusammenlief.

„Ich habe um nichts Spezielles gebeten. Als ich Mutter gestern wie üblich anrief, um unseren Besuch anzukündigen, hat sie gefragt. Sie geht mir so auf die Nerven. Jedes Mal das Gleiche. Als wüsste ich donnerstags, worauf ich freitags Appetit habe. Das habe ich ihr bestimmt schon hundertmal gesagt. Sie macht mich wahnsinnig mit diesen ewigen Nachfragen. Na ja. Vermutlich wird sie uns wie immer die Wahl lassen.“

„Ich bin froh, dass wir heute Abend nichts mehr vorhaben. Dass wir morgen zu Gina müssen, reicht mir für dieses Wochenende.“ Schon bei dem Gedanken an einen Abend bei Gina fühlte Hajo sich erschöpft.

„Heute Abend kommt ein guter Krimi. In der Kritik stand was von „unnötiger Brutalität“, sagte Sabrina. Hajo nickte. Es war ihm nur recht, dass für seine Frau keine Szene zu gewalttätig oder blutig sein konnte. Ein solcher Fernsehabend hatte zudem den angenehmen Nebeneffekt, dass sie das Wohnzimmer für sich hatten. Einmal hatten sie einen Film gemeinsam mit Sabrinas Mutter gesehen. Elisabeth war selbst bei den harmlosen Szenen zusammengezuckt und hatte den Blick abgewendet. Nach einer halben Stunde war sie aufgestanden und bis zum Ende des Films nicht ins Wohnzimmer zurückgekehrt. 

Etwa eine halbe Stunde vor der Ankunft angelte Sabrina nach dem Handy in ihrer Handtasche, um ihr baldiges Eintreffen bei Mutter anzukündigen.

Sabrinas Mutter wohnte in der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses aus den 1960er Jahren. Es gab keinen Aufzug, weshalb Sabrinas Mutter nach dem Tod ihres Mannes vor bald zehn Jahren überlegt hatte, in eine kleinere Erdgeschosswohnung umzuziehen. Hajo und Sabrina hatten ihr abgeraten. „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, hatte Sabrina gesagt. „Außerdem hält dich das Treppensteigen fit“, pflichtete Hajo bei. Tatsächlich hatten sie sich Sorgen wegen der Finanzen gemacht. Die Miete für die Wohnung im dritten Stock war geradezu lächerlich niedrig. Zu einem vergleichbaren Preis würde Elisabeth noch nicht einmal ein Appartement finden. Und wo sollten sie dann am Wochenende übernachten? So war es viel praktischer. 

Schon im Hausflur wurden sie vom verführerischen Duft des Essens begrüßt. „Hallo Elisabeth. Es riecht nach Kalbsgeschnetzeltem mit Steinpilzen. Habe ich Recht?“, begrüßte Hajo seine Schwiegermutter und schob sie zur Seite, um sich gleich im Esszimmer breit machen zu können. Dort hatte Elisabeth für die beiden wie üblich eingedeckt. „Wenn euch der Sinn nach Fisch steht, habe ich auch noch zwei wunderbare Forellen, die ich euch „Müllerin“ machen könnte. Bei der Vorspeise könnt ihr zwischen gebratener Jakobsmuschel auf Feldsalat mit einer Tomatenvinaigrette und einem leichten Spinat-Soufflé wählen.“ Die Wahl fiel auf Jakobsmuschel und Kalbsgeschnetzeltes.

Bis das Essen serviert werden konnte, räumte Sabrina die Reisetasche aus und hängte Blusen und Hemden in den Kleiderschrank in Sabrinas Kinderzimmer. Hajo warf sich auf das komfortable Doppelbett, das Sabrinas altem Bett gewichen war. 

Elisabeth aß nie mit ihnen gemeinsam. Während Sabrina und ihr Mann sich über die Vorspeise hermachten, kümmerte sie sich in der Küche um den nächsten Gang. Sabrina und Hajo waren ungestört und mussten nicht mit Mutter Smalltalk halten. Elisabeth hatte mit der Zubereitung der Speisen und dem Auf- und Abtragen des Geschirrs genug zu tun.

Auch ihr war dieses stillschweigende Abkommen sehr recht. Elisabeth konnte sich nicht erinnern, wann Sabrina die Küche zuletzt betreten hatte. Selbst nach der Beerdigung ihres Mannes hatte Elisabeth sich ohne Hilfe um Kaffee und Kuchen gekümmert. Dass sie vor vier Jahren eine neue Küche gekauft hatte, hatte sie Sabrina und Hajo nicht erzählt. Natürlich hätten sie wissen wollen, woher sie das Geld dafür hatte. Ihre Sorge war unbegründet. Auf die Idee, auch nur einen Blick in die Küche zu werfen, kamen Sabrina und Hajo nie. Dass die Küche ausgetauscht worden war würden sie noch merken, wenn sie nach Elisabeths Beerdigung den Kaffee selbst würden kochen müssen.

Bei der Küchenausstattung hatte Elisabeth an nichts gespart. Sogar einen Konvektomaten hatte sie sich gegönnt. Die Mitglieder ihres Kochclubs, die jeden zweiten Mittwoch mit ihr gemeinsam in der Küche standen, waren begeistert. „Eine echte Profiküche“, hatten sie anerkennend festgestellt und ihr geraten „Du solltest hier Kochkurse geben“. Darüber dachte sie noch nach. Der Clou war der Flachbildfernseher. Während Sabrina und Hajo im Wohnzimmer schlimme Filme guckten, konnte sie den Abend bei einem Glas Wein und dem besseren Fernsehprogramm in ihrer Küche gemütlich ausklingen lassen.  

Nach dem Essen fläzten sich Sabrina und Hajo im Wohnzimmer auf dem Sofa und schalteten den Fernseher ein. „Der Krimi wird nichts für Dich sein, Mutter. Kümmere Du Dich ruhig um Deine Küche. Hast ja sicher viel Spül. Wir kommen schon klar“, komplimentierte Sabrina ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. „Hast Du noch Eis im Froster? Ich könnte mir später noch ein zweites Dessert vorstellen“, ermutigte Hajo seine Schwiegermutter, am späteren Abend noch eine weitere Leckerei zu servieren.

Wieder in der Küche, griff Elisabeth zum Telefon. „Hast Du noch von diesem Eis, das uns so gar nicht geschmeckt hat? Sabrina und Hajo fragen nach einem zweiten Dessert.“

„Ich wollte dieses fiese Zeug eigentlich schon weggeworfen haben.“ Ihr Nachbar Luc kicherte. „Ich bringe es Dir gleich vorbei. Für zwei Portionen reicht es noch leicht.“

Am nächsten Morgen wurden Hajo und Sabrina vom Duft frisch gebrühten Kaffees geweckt. Sabrina ging als erste ins Bad. Ein schrilles „Iiiihhh“ riss Hajo aus seinen Gedanken. Genervt stieg er aus dem Bett und ging ins Bad. „Was ist los? Ich war noch mal so schön weggedöst“, beklagte er sich. „Hier kam gerade eine ekelige braune Brühe aus der Dusche. Das ist unzumutbar. Mutter muss sich unbedingt beim Vermieter beschweren“, schnaubte Sabrina ungehalten. „Hauptsache, sie will dann nicht wieder umziehen“, wandte sich Hajo ab, um wieder ins Bett zu gehen.

Bis beide geduscht und angezogen waren, hatte Elisabeth die Anrichte im Esszimmer in ein Frühstücksbuffet verwandelt. Kaum hatten Sabrina und Hajo Platz genommen, servierte Elisabeth Spiegel- und Rühreier mit Speck, der so kross gebraten war wie nur Elisabeth es konnte.

„Was ist denn mit Deinen Wasserleitungen? Da kam heute Morgen eine ekelige braune Brühe aus der Dusche.“ Sabrina war immer noch hörbar aufgebracht.

Mit dem Rücken zu ihrer Tochter arrangierte Elisabeth die Käseplatte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Woher sollte ihre Tochter auch wissen, dass ein bisschen Worchestersoße diesen Effekt hatte, wenn man sie in den Duschschlauch füllte. „Muss an den alten Leitungen liegen“, brachte Elisabeth gepresst hervor. Sie würde später in der Küche darüber lachen, dass dieser Streich so gut gelungen war.

Beim letzten Kochclub-Treffen hatte Luc von diesem Streich in einem Feriencamp erzählt. Elisabeth hatte über sich selbst gestaunt, dass sie den Vorschlag, mit diesem Streich ihrer Tochter „den Kopf zu waschen“ gleich in die Tat umgesetzt hatte.

„Wann warst Du eigentlich mit dem Wagen das letzte Mal in der Inspektion?“, fragte Sabrina spitz. „Im Scheckheft ist nichts vermerkt.“

„Ich glaube, ihr habt mit dem Auto auch alle Unterlagen mitgenommen. Die letzte Inspektion müsste ich im letzten Frühjahr bei 25.000 Kilometern gemacht haben. Bist Du zufrieden mit dem Auto?“ Elisabeth vermisste es noch gelegentlich. Vor einem halben Jahr hatte Sabrina es mitgenommen und ihr stattdessen einen dieser Einkaufstrolleys dagelassen. „Ich mache mir Sorgen, Mama. Nach einer Statistik bauen Autofahrer in Deinem Alter zunehmend Unfälle. Und weil sie es nicht immer bemerken, wenn sie beim Einparken den Nachbarwagen ramponieren, begehen sie ganz oft Fahrerflucht und machen sich strafbar. Du solltest auf das Autofahren verzichten“, hatte Sabrina damals vorgetragen. Sie hatte das Auto noch am selben Wochenende mitgenommen. Es lief weiter auf den Namen ihrer Mutter, schon allein der Versicherung wegen. Hajo hatte Sabrinas in die Jahre gekommenen Kleinwagen noch sehr gut verkaufen können. „Jeden Morgen steht ein Dummer auf“, freute er sich über den erzielten Preis. „Das reicht für eine Woche Mallorca im Drei-Sterne-Tempel.“

„Du weißt, dass wir heute Abend bei Gina eingeladen sind?“, fragte Sabrina nach dem Frühstück um sicherzustellen, dass Mutter für die richtige Vorbereitung sorgte. Gina war keine gute Gastgeberin. Als sie das erste Mal bei ihr eingeladen waren, waren sie ein paar Minuten zu früh angekommen. Gina hatte kauend die Tür geöffnet und eilig einen Pizzakarton in die Küche geräumt. Für die Gäste gab es bis auf ein paar Salzstangen nichts zu essen. Die Versorgung mit alkoholischen Getränken war tadellos, bis um ungefähr 22:00 Uhr das Bier ausging. Als es eine Stunde später auch keinen gekühlten Wein mehr gab, verabschiedeten Sabrina und Hajo sich.

Dennoch konnten sie Ginas Einladungen nicht ausschlagen. Hajos Chef würde da sein. Sie wussten nicht warum, aber er hatte einen Narren an Gina gefressen. Sabrina bemühte sich sicherheitshalber um Ginas Freundschaft. „Es wird unser Schaden nicht sein“. Hajo lächelte Sabrina an und strich ihr über die Wange. Er wusste ihr Opfer zu schätzen.

Zur Vorbereitung auf einen Abend bei Gina mussten es eine Elsässer Schlachtplatte mit Sauerkraut und Sahnepüree oder ein deftiger Eintopf mit reichhaltiger Einlage sein. Elisabeth bereitete besonders große Portionen zu. Nur so schafften es Hajo und Sabrina bei Gina durchzuhalten. Die Vorfreude auf Mutters Mitternachtssuppe ließ sie den Abend durchlächeln.

Nach dem Frühstück am Sonntag packten Sabrina und Hajo die kleine Reisetasche und strichen in Elisabeths Wohnung von Zimmer zu Zimmer. „In der Küche brauchen wir nicht gucken. Da ist das wertvollste ein Mixer von 1974“, dirigierte Sabrina ihren Mann.

Nach dem Tod von Sabrinas Vater hatten sie immer wieder Kleinigkeiten entdeckt, die sich im Internet gut verkaufen ließen und die Elisabeth wegen der Erinnerungen an ihren Mann vermutlich nur belastet hätten. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit Vaters Münzsammlung hätte tun sollen. Hajo erklärte ihr, wie gut man sich beim Betrachten und Sortieren von Münzen entspannen könne. Elisabeth hatte ihn erstaunt angesehen. „Das wusste ich gar nicht, dass Du Dich auch für Münzen interessierst“.

„Es gibt Vieles, was Du nicht von mir weißt“, hatte Hajo spitz geantwortet und sie nachsichtig angelächelt.
Bis zum nächsten Besuch hatte Elisabeth die komplette Sammlung verpackt bereitgestellt.

Damals hatte Hajo gleich nach der Rückkehr am Sonntagabend erste Kontakte in einschlägigen Chatrooms geknüpft. Die Versteigerung stieß auf unerwartet große Nachfrage. Sabrina hatte nicht gewusst, dass ihr Vater so wertvolle Stücke besessen hatte und sich einen Moment gewundert. Auch Vaters Werkzeug erzielte ein paar Wochen später einen guten Preis. „Sagen wir besser nichts“, schlug Hajo vor. „Deine Mutter würde sich nur aufregen, wenn sie wüsste, wofür Dein Vater sein Geld auf den Kopf gehauen hat. Besser, wir belasten sie damit nicht.“ Sabrina stimmte ihm zu.

Bevor Sabrina und Hajo am Sonntag die Heimreise antraten, servierte Elisabeth ihnen traditionell frische Suppe mit selbst gemachten Markklößchen und einen saftigen Rinderbraten mit Sahnesoße. Seit frühen Kindertagen liebte Sabrina diese „Sonntagssoße“. Wenn Elisabeth dazu als klassische Beilage Erbsen und Möhren reichte, war der Tag für Sabrina ein wirklicher Sonntag! Wenn es die Saison zuließ, kaufte Elisabeth Erbsenschoten auf dem Markt und palte sie anschließend. Das bereitete ihr zwar mehr Mühe, die Sabrina für den ungleich größeren Genuss Sabrina allerdings für gerechtfertigt hielt.

„Packst Du uns die Reste ein? Du kannst uns ruhig von allem mitgebe. War alles lecker“, erinnerte Hajo Elisabeth nach dem Essen. „Im Esszimmer lag übrigens ein Prospekt von einem Lieferdienst. Darüber haben wir doch schon gesprochen, Elisabeth“, tadelte er seine Schwiegermutter. „Dafür solltest Du deine Rente wirklich nicht ausgeben“, pflichtete Sabrina bei. „In Deinem Alter musst Du aufpassen. Ein paar Kartöffelchen mit Sauce sind genug. Im Alter darf man den Organismus nicht überfordern. Hast Du noch von dem Zwieback?“ Elisabeth senkte den Blick und nickte.

Nachdem Sabrina ihr wie üblich die mitgebrachten Frischhaltedosen in die Hand gedrückt hatte, befüllte Elisabeth sie in der Küche. Sie fluchte leise, als ihr der bereits mit Fleisch und Sauce gefüllte Behälter in Spülwasser plumpste. Sie hatte Glück – der Inhalt war nur wenig verwässert. Elisabeth rührte das Spülwasser sorgfältig unter und war mit dem Ergebnis zufrieden. 

„Nächste Woche hat sie Geburtstag“, sagte Sabrina, als sie wieder mit Hajo im Auto saß. Ihre Mutter stand am Wohnzimmerfenster und winkte ihnen nach.

„Zwieback?“, fragte Hajo. Seit einiger Zeit schenkten sie ihr jedes Jahr zum Geburtstag eine große Packung Zwieback. „Aber nur den guten. Man hat schließlich nur eine Mutter“, antwortete Sabrina.

 

Tätä Tätä Tätä!

Gestern tapsten wir noch im Dunkeln. Inzwischen haben wir weiter recherchiert.

Ein namhafter deutscher Süßwarenproduzent (Name der Redaktion bekannt) plant vermutlich eine Marktexpansion.

Foto 1 zeigt die Süßware so, wie wir sie aus deutschen Supermarktregalen kennen.

 

Abb1

Abb. 1

Auf der Homepage des Unternehmens steht (noch?) zu lesen, dass man bemüht sei, durch „organisches Wachstum der etablierten Marken die Marktposition, mit Fokus auf Zuckerwaren in Westeuropa, noch weiter auszubauen“.

Westeuropa? Das uns zugespielte Bild 2 lässt anderes vermuten.

Abb2

Abb. 2

Auch der Zuckerwarenlaie kann erkennen, dass diese Nascherei für den indischen Markt konzipiert und konfektioniert wurde. Ob auf die sonst übliche rote Nase mit Rücksicht auf die in Indien lebenden Hindus verzichtet wurde, konnte bislang nicht bestätigt werden. Im Hinduismus gilt Alkohol als unrein.

Etwas irritiert hat uns das Ergebnis auf Bild 3.

Abb3

Abb. 3

Schlamperei oder soll die Schaumzuckerspezialität neben dem indischen auch bald den russischen Markt erobern? Wird die Vermischung mit dem Modell „Gorbi“ die Konsumenten überfordern?

Wir bleiben am Ball!

 

 

 

 

Recherche

Neue Beiträge gibt es auf Senfbeigabe immer sonntags. Außer natürlich, die Recherche ist noch nicht abgeschlossen.

So viel schon heute: Wenn es stimmt, ist es ein Knaller. Ob es mit Karneval zu tun hat , ist noch nicht raus. Das Team arbeitet mit Hochdruck an weiteren Informationen. Die schlechte Bildqualität ist den widrigen Umstände geschuldet.

Dienstschluss

„Wolfi“, flötete Hannelore aus der Küche, „Leberwurst und Käse?“

„Gerne!“ Wolfgang kam in die Küche und küsste den Oberkopf seiner Frau, die am Küchentisch saß. Seit 37 Jahren machte sie ihm morgens die Brote für den Tag, immer mit dem gleichen Belag. Er liebte sie dafür, dass sie sich dennoch jeden Morgen versicherte.

Während er sich setzte, zupfte sie eine Fluse von der braunen, fein gestreiften Anzugweste glatt. Er schenkte sich ein Tasse Kaffee ein.

„Du könntest mal wieder zum Friseur.“ Hannelore legte den Kopf schief und sah ihren Mann kritisch an. „Ich mache einen Termin für Dich“, entschied sie. Wolfgang nickte. Seine Frau war die einzige, die Veränderungen an seinem Haarschopf bemerkte. Wolfgang trug das Haar stets sehr kurz. Seine Haare fielen ganz unabhängig von Schnitt und Styling.

Nach dem Frühstück steckte er seine Butterbrotdose in die Aktentasche. Einen Joghurt hatte Hannelore in einen Frühstücksbeutel gewickelt, damit er in der Tasche kein Unheil anrichten konnte. Die Joghurtsorte wählte Hannelore für ihn aus. Insgeheim hoffte er jeden Morgen auf einen Himbeer-Sahnejoghurt. Darüber konnte er sich freuen wie ein Schneekönig. Nicht, dass man ihm diese Freude hätte ansehen können. Für Gefühlsausbrüche jedweder Art waren Wolfgangs Gesichtszüge nicht ausgelegt. Hannelore war wohl nahezu der einzige Mensch, der seine Freude an einem leichten Kräuseln der Oberlippe ablesen konnte.

Die Tagesration komplettierte ein frisch gewaschener Apfel. Wolfgang saugte einen letzten Tropfen Wasser, der sich am Stilansatz versteckt hielt, heimlich mit dem Zipfel der Tischdecke auf. Neben den Apfel hatte Hannelore für ihn ein kleines scharfes Messer in ein Stück Küchenpapier gewickelt, damit er im Büro den Apfel in Achtel schneiden und das Kerngehäuse entfernen konnte. Er achtete beim Einpacken sorgsam darauf, dass die Unterlagen in der Tasche nicht zerknittert wurden. Hannelore hielt währenddessen seine Brille unter den Wasserhahn, um sie mit ein bisschen Spülmittel für den Tageseinsatz blitzblank zu putzen. Jeden Morgen stand Wolfgang für die Dauer der Prozedur fast bewegungslos in der Küche. Seine Frau reichte ihm die geputzte Brille, die gut ein Drittel seines Gesichts einnahm und seinen Kopf klein wirken ließ.

Hannelore begleitete ihren Mann bis zu Tür. Um sie zu küssen, musste er sich eigentlich nicht herunterbeugen. Dennoch tat er es mit einer fast übertriebenen Bewegung, vielleicht um eine körperliche Überlegenheit zu demonstrieren, die es tatsächlich nicht gab.

Lächelnd blickte Hannelore der schmalen Silhouette ihres Mannes hinterher, der bereits die Treppe hinunterging und schloss langsam die Wohnungstür.

Das Auto, ein älterer dunkelroter Passat, stand auf dem reservierten Parkplatz direkt vor dem Haus. Bevor Wolfgang einstieg, winkte er seinem Lörchen, die oben im Wohnzimmer die Gardine ein Stück zur Seite geschoben hatte, um ihrem Wolfi ein Luftküsschen zuwerfen zu können.

Wolfgang war gerne frühmorgens unterwegs. Er hasste es zunehmend, sich durch den Berufsverkehr quälen zu müssen. Zu seinem Bedauern, hatte sein Chef das Auftaktgespräch zur heutigen Kassenprüfung erst für 8:30 Uhr terminiert. Volle Straßen waren ihm damit gewiss.

 

Der kurze Wortwechsel mit seiner Frau am Morgen war zumeist das längste Gespräch des Tages.

Bevor er sich für den Außendienst qualifiziert hatte, hatte er sich viele Jahre mit einem jüngeren Kollegen das Büro geteilt. Jens Wagner war damals Ende 20 und hochgewachsen. Neben diesem breitschultrigen Kerl wirkte Wolfgang fast lächerlich klein. Die Bürogemeinschaft war für beide Parteien eine dauernde Anstrengung. Wolfgang konnte sich nur schwer konzentrieren, wenn Wagner mit lauter Stimme telefonierte oder polternd lachte. Jens Wagner hätte Wolfgang gerne von Zeit zu Zeit gekniffen – nur um ganz sicher zu gehen, dass Wolfgang ein Mensch und keine Maschine war. Es machte Wagner fast wahnsinnig, dass Wolfgang nur sprach, wenn er angesprochen wurde. Wenn er ihm eine Frage stellte, überlegte Wolfgang zunächst und fasste seine Antwort in wohl gewählte Worte. Er sprach mit ruhiger, eintöniger Stimme. Er hatte eine leicht näselnde Aussprache und die Neigung, in gewissen Worten das „e“ fast wie ein „ä“ auszusprechen.

Anfangs hatte Jens Wagner tatsächlich geglaubt, Wolfgang sei am Schreibtisch eingeschlafen. Schließlich begriff er, dass Wolfgang sich einfach sehr ökonomisch bewegte. Dies galt insbesondere dann, wenn er völlig konzentriert war und mit geschlossenen Augen ein Problem aus allen Perspektiven überdachte.

 

Wolfgangs Aufgabe war die Belegprüfung in untergeordneten Organisationen. Wo auch immer er prüfte, prüfte er allein. Während manche seiner Kollegen fast herzlich willkommen geheißen und mit Mittagsimbiss und Getränken bewirtet wurden, saß Wolfgang stets solo in einem oft muffigen Büro oder Aktenraum. Diese Form der Unterbringung entsprach allerdings auch viel eher seinem Naturell, als ein helles, modernes Zimmer. Wolfgang fühlte sich wohl zwischen alten Akten. Er liebte den Geruch jahrzehntealten Papiers.

In manchen Verwaltungen erhielt er einen Gutschein für die Mittagsverpflegung in der Kantine. Sein Dienstherr hatte das Annehmen dieser Vergünstigung ausdrücklich erlaubt, obwohl es sich eindeutig um einen geldwerten Vorteil handelte, der auch als Bestechungsversuch hätte ausgelegt werden können. Sein Vorgesetzter war in schallendes Gelächter ausgebrochen, als Wolfgang seine Bedenken vortrug. Sein Chef hielt es für ausgeschlossen, dass Kantinenessen ein Vorteil sein könnte. Wolfgang bevorzugte ohnehin die mitgebrachten Brote, die ihm Hannelore mit Hingabe zubereitete.

An diesem Montag war der Verkehr, wie um diese Uhrzeit zu erwarten, mörderisch. Er hatte den Eindruck, als seien viele Autofahrer zu Wochenbeginn nervöser und ungeduldiger, obwohl sie nach dem Wochenende doch erholter und gelassener sein müssten.

 

Kurz nachdem Wolfgang auf die Autobahn gefahren war, stand er im Stau. Zunächst ging es im Schritttempo ab und an vorwärts. Wolfgang guckte immer wieder nervös zur Uhr. Es würde schwierig werden, rechtzeitig das Ziel zu erreichen. Um viertel vor acht kam der Verkehr völlig zum Erliegen.

Wolfgang hatte seinen Wagen auf der rechten Fahrspur so positioniert, dass links von ihm ausreichend Platz für Einsatzfahrzeuge blieb. Wolfgang war der Einzige, der eine Gasse bildete.

Die Staumeldungen im Anschluss an die Nachrichten um acht Uhr bestätigten die schlimmsten Befürchtungen. Es hatte einen schweren Unfall gegeben; die Räumungsarbeiten würden noch Zeit in Anspruch nehmen, der Stau war auf acht Kilometer angeschwollenen. Man empfahl eine Umleitung. Die ersten Neugierigen stiegen bereits aus ihren Autos und liefen Zigarette rauchend über die Fahrbahn. Unverantwortlich und gefährlich, wie Wolfgang fand. Wolfgang war noch mindestens drei Kilometer von der nächsten Abfahrt entfernt. Bei dem Gedanken, nicht pünktlich sein zu können, wurde ihm übel. Er ärgerte sich, nicht zur gewohnten Zeit losgefahren zu sein. Besser wäre es gewesen, am Ziel noch eine Stunde im Auto zu warten. Er hätte die Akten noch mal in Ruhe durchgehen und seine Notizen studieren können.

 

Dieser Stau war weder für Wolfgangs Nerven, noch für die Maschine seines Wagens gut. Von den schädlichen Umweltbelastungen durch laufende Motoren ganz zu schweigen. Von Zeit zu Zeit ergab sich die Möglichkeit, einen Meter vorzufahren. Wolfgang startete dann seinen Wagen und fuhr die kurze Strecke, um sich seinem Vordermann wieder anzuschließen. Was, wenn er jetzt nicht bremsen, sondern das Gaspedal durchtreten würde? Einfach weiterfahren und alles vor ihm von der Straße schieben! Wolfgang schüttelte den Kopf und wunderte sich über seine merkwürdigen Ideen. Der Fahrer im Wagen neben ihm starrte ihn an, als habe er Wolfgangs Gedanken gelesen. Entschuldigend lächelte Wolfgang.

Endlich kam die Abfahrt in Sicht! Die meisten Autofahrer vor ihm hatten sich ebenfalls entschieden, von der Autobahn abzufahren und die Ausweichstrecke zu nutzen. Das würde unweigerlich zu einem zweiten Stau auf der Landstraße führen.

Während Wolfgang in der Ausfahrt an der roten Ampel wartete, rieb er sich das Kinn. Wie sollte er diese Quälerei noch fast zehn Jahre aushalten?

Beim Streichen über das Kinn spürt er eine deutliche Erhebung auf der rechten Wange, ungefähr in Höhe des rechten oberen Backenzahns. Er tastet die Stelle ab und ahnte, dass dort eine Hautunreinheit zu einem Pickel heranwuchs. Die Ampel sprang auf Grün, er musste die Untersuchung abbrechen.

Nur langsam bewegte sich die Blechlawine vorwärts. Die Fahrzeuge, die aus Seitenstraßen zu den Staufahrern stießen, verursachten zusätzliche Stockungen.

Wolfgang war durch den Pickel abgelenkt. Immer wieder musste er mit zwei Fingern über die Erhebung fahren. Er hätte zu gerne gewusst, ob der Pickel schon reif war, um ihn auszudrücken. 

Die Karawane näherte sich langsam einem einspurigen Kreisverkehr. Um die Fahrspur für LKW breit genug zu halten, hatte man fast den gesamten Kreis asphaltiert. Übriggeblieben war eine Mittelinsel von zwei Metern Durchmessern, die man mit Steinen gepflastert hatte. Wolfgang hätte sich Geranien gewünscht.

Wie gerne hätte er sich der Pustel gewidmet. Zu sehr an den Gedanken auf das Ausdrücken des Pickels und zu wenig auf den Verkehr konzentriert, rutschte Wolfgang von der Kupplung. Sein Auto macht einen kleinen Satz nach vorne, während der Motor ausging. Wolfgang hatte Glück, nicht mit dem Wagen im Heck des Vordermanns gelandet zu sein.

„Wie peinlich“, dachte Wolfgang. Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss und sich seine Gesichtshaut dunkelrot verfärbt. Auch im Kreisverkehr ging es nur im Schneckentempo weiter. Einen Meter nach vorne, anhalten, wieder einige Zentimeter weiter, anhalten. Dieser Verkehr machte es Wolfgang unmöglich, sich weiter seinem dringendstem Problem zu widmen.

Kurz entschlossen lenkte er seinen Wagen zur Mitte des Kreisverkehrs. Er hielt an, als er mit zwei Reifen auf der Mittelinsel stand. Er blockierte damit nur einen Teil der Fläche, die große LKW und Busse brauchten, um die Kurve nehmen zu können. Auf den Schutz der Umwelt bedacht, schaltete er den Motor aus. Das Auto hinter ihm hupte und der Fahrer zeigte im einen Vogel. Wolfgang lächelte ihn freundlich an. Endlich hatte er die Möglichkeit, sich mit seinem Pickel zu beschäftigen. Ein prüfender Blick über den Rückspiegel bestätigte, dass er es mit der Entfernung der Pustel versuchen könnte. Lieber mit einem roten Flatschen im Gesicht herumlaufen, als mit einem Pickel, der bereits sein gelbes Köpfchen zeigte!

Er rutschte im Sitz nach vorne, um sich besser im Rückspiegel sehen zu können. Mit den Zeigefingern drückte der die Haut zusammen. Zu seinem eigenen Erstaunen empfand er keinerlei Scham. Fast alle Fahrer glotzten ihn an, während sie sich langsam an ihm vorbeischoben. Eine junge Frau wendete sich mit vor Ekel verzogenem Gesicht ab.

Um die Operationsspuren zu beseitigen, brauchte Wolfgang ein Papiertaschentuch. Ihm fiel das Küchentuch ein. Vorsichtig zog er die Proviantdosen, Apfel, Joghurt und Zubehör aus seiner Aktentasche. Mit dem Küchenpapier tupft er vorsichtig die kleine Wunde ab.

Zufrieden lehnte er in seinem Sitz zurück und betrachtete die vielen Autos, die sich langsam und unaufhörlich an ihm vorbeischlängelten. Ein LKW-Fahrer hatte Mühe, die Kurve zu nehmen und kam Wolfgangs Wagen verdächtig nah. Er schaffte es und gestikulierte wild, um Wolfgang klar zu machen, dass sein Standort äußerst schlecht gewählt war. Wolfgang zuckte entschuldigend mit den Achseln und lächelte.

Schon längst hätte er den Wagen wieder starten und in die Schlange einreihen können. Aber er fühlte sich sehr wohl in seinem Auto, auf seinem Tribünenplatz. Er betrachtete die zumeist völlig genervten Wagenlenker. Aus manchen Autos drang die Musik so laut, dass er hätte mitsingen können. Keine Sekunde dachte er mehr daran, dass er anderenorts erwartet wurde. Kein Gedanke an seine Arbeit oder an sein Lörchen. Sein Kopf schien angenehm leer, erleichtert um das Vermögen geistiger Arbeit.

Nachdem er eine Stunde so in seinem Wagen gesessen hatte, verspürte er Hunger. Wolfgang öffnete die Brotdose und aß genüsslich zunächst ein Käse- und anschließend ein Leberwurstbrot.

Der Verkehr um ihn herum nahm ab. Gegen 10.30 Uhr passieren kaum noch Fahrzeuge den Kreisverkehr. Vermutlich hatte man die Unfallstelle inzwischen geräumt und die Autobahn war wieder frei. 

Wolfgang blieb regungslos in seinem Auto sitzen, lächelte und betrachtete das Leben außerhalb seines Wagens wie einen Film. Ab und an wurde gehupt und Wolfgang wurde mit unmissverständlichen Handzeichen bedeutet, dass der gewählte Parkplatz ungünstig war. Wolfgang reagierte mit dem stets gleichen freundlichen Lächeln und einem bedauernden Schulterzucken.

Um 12.00 Uhr packt er das Mittagsmahl aus und aß mit Appetit zwei weitere belegte Brote. Anschließend zerteilte er den Apfel. Nachdem das Küchentuch nicht mehr zu gebrauchen war, schnitt er das Kerngehäuse in die Brotdose. Nach und nach aß er den geachtelten Apfel und kaute jeden Bissen gründlich.

Die Sonne war herausgekommen und die Temperatur im Auto hatte merklich zugenommen. Wolfgang wurde warm, aber er kam nicht auf die Idee, den leichten Mantel und das Anzugjackett auszuziehen. Wie erstarrt blieb er im Auto sitzen. Schweißperlen traten auf seine Stirn, während er lächelnd weiter das nun wieder zunehmende Treiben um ihn herum betrachtete. Er lächelte auch noch, als die Polizei ihn gegen 15.30 Uhr schweißgebadet aus dem Auto zog.

„Ich habe meinen Joghurt noch nicht gegessen“, erklärte er dem Beamten, bevor er pünktlich zum Dienstschluss das Bewusstsein verlor.

Annabelle

„Gestatten, mein Name ist Annabelle“, tippte sie in ihren Computer, um die knappe Zeile anschließend sofort wieder zu löschen. „Ach du liebes Thereschen“, dachte sie, „dass ist ja mal ein origineller Start!“ Schließlich wollte sie sich nicht als Bond-Girl bewerben, sondern eine Kontaktanzeige aufgeben!

„Ich, 34 J., weibl. habe genug gesingelt + möchte wieder doubeln“. Ach Mist! Sie würde Christina fragen müssen. Wahrscheinlich würde sie eine solche Anzeige locker formulieren. Wenn morgen Abend alles gut ging, würde sie die Anzeige vielleicht ohnehin nicht mehr aufgeben müssen.

Annabelle griff zum Telefon und wählte die Nummer ihrer Eltern. „Erwin Koslowski“, melde sich ihr Vater nach kurzem Klingeln. „Hallo Papa, ich bin’s“, antwortete Annabelle und wartete brav ab, bis ihr Vater wie üblich eine seiner Interpretationen des Reinhard-Mey-Songs intoniert hatte. Ihren Vornamen hatte ihre Mutter ausgesucht. Sie liebte diesen Song von Reinhard Mey. Wenn ihr Vater sie den Refrain singend begrüßte, fühlte sie sich wie sein kleines Mädchen. Nannte sie Fremden ihren Namen, so entlockte ihr ein Hinweis auf das Meisterstück Reinhard Meys meist nur noch ein gequältes Lächeln.

„Papa, meinst Du, ich kann euch für Sonntagmittag einen Korb geben? Ich bin morgen Abend verabredet und würde Sonntag so gerne ausschlafen können“, fragte Annabelle vorsichtig nach und war froh, dieses Anliegen nicht bei ihrer Mutter platzieren zu müssen.

„Verabredet, so so. Mit wem denn? Ist er nett? Ach, wird aber auch Zeit! Wie lange bist Du jetzt solo? Das muss doch schon bald ein Jahr sein. Obwohl ich dem Gerald keine Träne hinterherweine. Der war nicht der Richtige für Dich! Aber Kindchen, Du wirst ja auch nicht jünger. Apropos: Was wünschst Du Dir eigentlich zum Geburtstag? Ist ja nicht mehr so lange hin und schließlich ist es der 35te“, sprudelte es aus ihrem Vater heraus.

„Ach, Papi, ich wünsch mir gar nichts. Ihr habt mir nun wirklich genug geholfen. Ohne euch müsste ich wohl noch vom Boden essen“. Nach der Trennung hatten Gerald und sie die Möbel aufgeteilt. Ihre Eltern hatten für sie einen neuen Esstisch gekauft.

„Nu komm, gönn‘ uns die Freude! Ich will nicht mehr Erwin Koslowski heißen, wenn ich meiner Großen nichts mehr zum Geburtstag schenken darf! Wenigstens irgendso’n Grünzeug für Deine Luxusterrasse wird doch wohl drin sein!“ Annabelle musste lachen. Ihr Vater mit dem Namen, den Loriot nicht schöner hätte erfinden können. Er hatte so ein großes Herz! Dass ausgerechnet dieses Herz ihm den Vorruhestand eingebrockt hatte, war nicht gerecht. Es war ihm geradezu peinlich, nicht mehr arbeiten zu dürfen. 

„Ja, sicher. Über irgendwas für den Balkon freue ich mich immer“, antwortete Annabelle. „Mit morgen geht dann alles klar?“

„Wenn ich das Deiner Mutter beibringen soll, dann musst du mir jetzt schon noch ein bisschen verraten. Wie heißt er denn nun? Und woher kennst du ihn?“ Annabelle erzählte – immer wieder unterbrochen von ihrem Vater. Dass sie ihn über das Internet kennengelernt hatte (Oh Gott, ist das denn nicht viel zu gefährlich?). Dass er Roberto hieß (Ach, nee, hoffentlich kein Casanova!), mindestens so gerne wie sie las (Ja, dann habt ich euch ja wenigstens was zu erzählen) und dass sie sich heute Abend zum Essen verabredet hatten (Lass dich bloß nicht gleich aushalten, zahl besser selbst!). 

Seit gut zwei Monaten schrieben sich Annabelle und Roberto schon E-Mails, inzwischen täglich. Obwohl sie Roberto noch nie gesehen oder persönlich gesprochen hatte, begann sie, sich in ihn zu verlieben. Sie hatte keine Ahnung, ob Roberto womöglich ein verurteilter Mehrfachstraftäter war, der mit 57 Jahren noch bei seiner Mutter lebte und dem dicke Warzen auf dem Hintern wuchsen. Nach seinen E-Mails und der entstandenen Vertrautheit zwischen ihnen, schien ihr das indes unmöglich.  

Der Abend, an dem sie ihre Fotos austauschten, war furchtbar. Annabelle hatte entsetzliche Angst, sie würde Roberto nicht gefallen. Während sie auf seine Antwortmail wartete, lief sie wie ein werdender Vater, eine Zigarette nach der anderen rauchend im Wohnzimmer auf und ab. Warum war sie eigentlich so blöd gewesen, vor ihm ein Foto zu schicken? Es ging gut aus. Sie für ihren Teil war jedenfalls mit Roberto auch weiterhin zufrieden.

Vor zwei Wochen hatten sie sich zum Essen verabredet. Je näher der Tag für das erste Treffen rückte, desto nervöser und fahriger wurde Annabelle. Immer wieder saß sie in ihrem Büro und starrte verträumt aus dem Fenster. „Viel los auf dem Parkplatz?“ spottete ein Kollege. „Ich beobachte den Kraftfahrzeugmarkt“, entgegnete Annabelle geistesabwesend. Beim Kaffeekochen vergaß sie, die Glaskanne in die Kaffeemaschine zu stellen. Sie räumte die Kontoauszüge zusammen mit dem Joghurt in den Kühlschrank und betrat am Dienstag vor dem Date das Büro mit zwei unterschiedlichen Schuhen.
 

Am Mittwochabend saß sie mit Christina vor ihrem Kleiderschrank. Es dauerte ewig, bis Christina endlich zufrieden war. „Und drunter?“, fragte sie.
„Ok“, stimmte Annabelle entkräftet zu, „ich gehe morgen noch einkaufen.“

In der Dessous-Abteilung ihres Lieblingskaufhauses entdeckte sie einen Traum aus Satin. Erst in der Umkleidekabine stellte sie fest, dass sie durch die Aufregung wohl ein paar Pfunde eingebüßt hatte: Der BH war zu groß, vorne bildete sich eine Luftblase. Sie steckte den Kopf durch den Vorhang der Umkleidekabine und versuchte eine Verkäuferin heranzuwinken. Die Konsumassistentin stand etwa zehn Meter entfernt und bewegte auf Annabelles Hallo-Rufe ganz leicht den Kopf in Annabelles Richtung. „Was kann ich für sie tun?“ fragte sie genervt und ohne sich zu bewegen. Annabelle erläuterte das Problem. „Haben Sie denn auch von den Seiten schön alles reingeholt?“ brüllte die Dame bei unveränderter Distanz durch die Abteilung zurück.

Annabelle war einen Moment fassungslos. Als ihr fragender Blick auf das amüsierte Grinsen eines etwa 25-Jährigen traf, der darauf wartete, dass seine Freundin den richtigen String-Tanga fand, zog sie ihren Kopf schnell in die Umkleidekabine zurück. „Warum dürfen Männer überhaupt in die Dessous-Abteilung“, fragte sich Annabelle nicht zum ersten Mal. 

Das genervte Verkaufspersonal kehrte mit dem BH in der hoffentlich richtigen Größe zurück. Annabelle probierte ihn. Die Verkäuferin hatte offenbar auf der anderen Seite des Vorhangs gelauert. „Haben sie ihn schon an? Soll ich mal gucken?“, flötete es. Ohne Annabelles Antwort abzuwarten, riss sie den Vorhang zur Seite, gab für einen kurzen Moment den Blick auf Annabelle im BH frei und schloss den Vorhang blitzschnell hinter sich.

„Der sitzt doch sehr gut.“ säuselte es neben ihr. Beherzt griff die Verkäuferin in Annabelles BH und verteilte gekonnt um. Man kam überein, dass das Modell für Annabelle tatsächlich das richtige war.

Für den Samstag hatte sie eine gründliche Entfernung aller eventuell störenden Körperhaare geplant. Nachmittags ließ sie sich Badewasser ein. Der Badezusatz versprach, ihre Haut streichelzart pflegen. Sie glaubte es gerne. Ein Gläschen Sekt, in der Wanne genossen, würde bei den weiteren Vorbereitungen helfen. Annabelle versank im üppigen, duftenden Schaum, rauchte, trank Sekt und träumte von ihrem Date mit Roberto.

Erschrocken stellte sie fest, dass sie reichlich Zeit in der Wanne vertrödelt hatte. Jetzt aber los!

Annabelle cremte die vom langen Bad verrunzelte Haut mit einer angenehm duftenden Bodylotion ein. Sie föhnte ihr Haar unter Einsatz von vier gleichzeitig eingedrehten Bürsten zu einem wahren Wunder an Volumen und Glanz. Sie steckte sich eine Zigarette in den Mund und lächelte sich zufrieden im Spiegel zu. Aus dem Feuerzeug schoss eine Stichflamme, die ihr die Wimpern des linken Auges und ein wenig die Augenbraue versengte. Vorsichtig schnippelte sie die verkokelten Spitzen ihrer Augenbraue mit der Nagelschere ab. Das Malheur an den Wimpern vertuschte sie mit einer Extraschicht Mascara. Beim erneuten Versuch, eine Zigarette anzuzünden, hielt sie das Feuerzeug weit weg. Sie nahmen einen tiefen Zug. Als sie die Zigarette auf dem Waschtisch ablegen wollte, riss sie sich ein kleines Stückchen Haut von der Unterlippe ab. „Mist!“ fluchte sie laut und fühlte mit der Zunge über die Lippe. Der Rauch der abgelegten Zigarette zog ihr so ungünstig ins Auge, dass es zu Tränen begann. Die frisch aufgetragene Wimperntusche lief Annabelle über das Gesicht.

Genervt setzte Annabelle sich auf den Badewannenrand. Sie entschloss sich zu einem weiteren Glas Sekt.

Gestärkt ging sie erneut ans Werk. Das Make-up saß! „Verdaaammt!!!“, rief sie, als sie feststellte, dass die Zigarettenschachtel leer war.

Im rosa Bademantel und mit Flipflops an den Füßen, aber perfekt gestyltem Kopf huschte sie aus der Wohnung, um schnell am nächsten Zigarettenautomaten ein paar Glimmstängel zu erstehen. In dem Moment, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, wusste sie, dass sie den Wohnungsschlüssel vergessen hatte. Zum Glück hatte sie bei ihrer Nachbarin einen Zweitschlüssel deponiert. Aber Martina öffnete die Tür nicht. Ein Blick in den Hof bestätigte den Verdacht, dass Martina nicht zu Hause war. Auch ihr Auto stand nicht auf dem Parkplatz. 

Annabelle hockte sich auf den Treppe und hoffte, ihre Nachbarin würde bald nach Hause kommen. Sie ärgerte sich, nicht wenigstens das Sektglas mit hinaus genommen zu haben. Als aus der Wohnung über ihr die Titelmelodie der Vorabendserie, die um kurz vor 18.00 Uhr begann, ertönte, wurde sie nervös. Wo blieb bloß Martina? Wenn sie jetzt ihren Vater anrief und er sich gleich auf den Weg machen würde, könnte sie es noch schaffen. Sie nahm sich ein Herz und klingelte in der Wohnung über ihr bei Frau Müllersohn. Sie musste ein zweites Mal schellen, bevor die Tür geöffnet wurde. Frau Müllersohn ließ sich offenbar nicht gerne von der Vorabendserie abhalten. Annabelle erklärte kurz ihre missliche Lage. Frau Müllersohn drückte ihr das Telefon in die Hand, schnaubte „Ziehen Sie die Tür hinter sich zu“ und verschwand wieder im Wohnzimmer.

Sie wählte die Nummer ihrer Eltern, aber niemand hob ab. Annabelle überlegte, wo ihre Eltern sein könnten. „Dritter Freitag im Monat, die sind kegeln“, fiel es ihr ein. Was jetzt? Ihr blieb noch eine knappe Stunde. Den Schlüsseldienst? Diese Halsabschneider konnte sie sich im Moment nicht leisten. Der Einkauf der Dessous hatte bereits ein tiefes Loch in die Haushaltskasse gerissen. Wenn sie heute Abend den Rat ihres Vaters befolgen und selbst zahlen würde, würde es bis zum nächsten ersten ohnehin knapp. Sie lugte vorsichtig durch die Wohnzimmertür von Frau Müllersohn. „Haben Sie zufällig eine Ahnung, wann Frau Kramer heute nach Hause kommt?“, fragte Annabelle vorsichtig. „Nee“, kam es knapp und sehr bestimmt zurück. „Vielen Dank“, murmelte Annabelle, legte das Telefon zurück und schloss die Wohnungstür von Frau Müllersohn hinter sich.

Sie setzte sich wieder auf die Treppe und wartete auf Martinas Rückkehr. Was könnte sie sonst tun? „Warum habe ich nicht im Restaurant angerufen?“, kam ihr die rettende Idee. Sie atmete tief durch und klingelte erneut bei Frau Müllersohn. Sie öffnete schweigend die Tür, guckte Annabelle böse an und ging wortlos zurück vor den Fernseher. „Entschuldigung, hätten Sie wohl ein Telefonbuch für mich?“, traute sie sich Frau Müllersohn erneut zu stören. „Oberste Schublade“, blökte sie zurück. Fieberhaft suchte sie im Telefonbuch nach dem Restaurant, in dem sie sich verabredet hatten. Kein Eintrag! Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Zeile für Zeile las sie die Einträge in der Rubrik „Gaststätten“. Vielleicht würde sie über die Straße die Telefonnummer finden. Vielleicht war es früher mal ein Restaurant Akropolis? Annabelle versuchte ihr Glück. „Restaurante Ackroppolis, Roberto an Apperat“, ertönte nach nur zweimal Klingeln eine männliche Stimme. „Oh“, entfuhr es Annabelle. Roberto?

„Hallo?“, fragte die Stimme im Hörer.

„Äh, ja, hallo. Hier ist Annabelle!“

„Ja. Bitte? Was kann tun?“, fragte der Mann schon etwas drängender.

Ihr Name hatte also nicht als Erklärung gereicht. „Ja, hallo, guten Abend. Ich möchte eigentlich mit jemandem aus dem Restaurant „Il mondo italiano“ sprechen.“, versuchte Annabelle es erneut.

„Hier Restaurante Ackroppolis, Roberto an Apperat“, wiederholte Roberto.

„Ja, danke“, sagte Annabelle und legte auf.

Aus dem Wohnzimmer von Frau Müllersohn drang der Jingle der 19.00 Uhr-Nachrichten. Annabelle brach in Tränen aus. Das Telefon noch in der Hand, verließ sie die fremde Wohnung und zog die Tür ins Schloss. Roberto würde sie sich aus dem Kopf schlagen müssen. Sie setzte sich wieder auf die Treppe. Als das Telefon in ihrer Hand klingelte, schrak sie zusammen. „Hallo? Hier ist Annabelle“, sprach sie in den Hörer und schöpfte Hoffnung. Sie hatte vergessen, dass sie das Telefon von Frau Müllersohn in der Hand hielt. „Margarete? Bist Du es?“, krächzte eine vermutlich sehr alte Frau in den Hörer. Annabelle rannte die Treppe hoch und klingelte schon wieder bei Frau Müllersohn. Als sie die Tür öffnete, drückte sie ihr den Hörer in die Hand. „Für Sie!“, sagte sie, machte kehrt und rannte die Treppe wieder runter. „Diese jungen Dinger“, wunderte sich Frau Müllersohn und verschwand mit dem Telefon in der Wohnung. 

Viel später am Abend fand Martina Annabelle schlafend auf der Treppe. „Was machst du denn hier?“, fragte sie staunend.

„Ich habe aufgehört zu rauchen“, antwortete Annabelle.

 

Die Beichte – Teil 2

Sie glaubte die folgenden Worte zu hören: „Ich habe mich in Thorsten verliebt. Ich will mit ihm zusammen leben.“

Andrea klappte den Mund wieder zu, hielt sich die Hand davor und hielt die Luft an. Ein Glucksen geriet so erbärmlich, dass Rainer es für einen Schluchzer hielt. Betreten blickte er zu Boden.

Hatte Andrea richtig gehört? Hatte er Thorsten gesagt? „Thorsten?“ fragte sie. „Dein Kollege Thorsten? Der, mit dem Du im Frühjahr die Radtour gemacht hast?“ Rainer schwieg.

„Aber Thorsten ist ein Mann!“ stellte Andrea fest.

„Ich weiß, das muss jetzt hart für Dich sein“, begann er, ohne sie anzusehen. „Glaub mir, ich war genauso überrascht. Es war nicht leicht für mich, das zu erkennen.“ Andrea zog eine Augenbraue hoch. „Ach ja?“, fragte sie. Rainer wurde knallrot. Sie wusste, wie sehr Rainer sich darüber ärgerte, sich in diesem Moment missverständlich ausgedrückt zu haben.

„Du weißt doch, was ich meine. Es war schwer für mich, zu erkennen, dass ich mich in einen Mann verliebt hatte“, setzte er neu an. „Es war noch schwerer, es zu akzeptieren. Inzwischen bin ich mir ganz sicher. Ich will mit Thorsten zusammenleben“, trug er weiter vor. Wie oft hatte er den Text wohl geübt?

„Aha“, dachte Andrea. Hatte er ihr gerade wirklich gesagt, dass er sie für einen Mann verlassen will? Und dann auch noch für Thorsten? Würde er jetzt zum Trost seine Hand auf ihren Unterarm legen, würde sie schreien.

„Ich kann Dir alles erklären!“, fuhr Rainer fort. „Oh, nein, keine Details“, unterbrach sie ihn. „Ich will das gar nicht wissen.“ Er würde doch jetzt nicht wirklich von seinem ersten Mal mit Thorsten erzählen wollen?

„Ich bin froh, dass es raus ist. Danke, dass Du es so ruhig aufnimmst.“ Andrea hörte die Erleichterung in Rainers Stimme. Sie fühlte Wut in sich aufsteigen. Bis vor wenigen Minuten hatte sie noch weiche Knie gehabt, weil sie Rainer ihre Liebe zu einem anderen Mann gestehen wollte. Wie konnte er ihr jetzt mit Thorsten kommen? Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Ihr dämmerte langsam die Tragweite seiner Beichte. Andreas Eltern lebten nicht mehr. Ihrem Vater würde sie diese Wendung in ihrer Ehe zum Glück also nicht mehr erklären müssen. Spätestens diese Nachricht hätte bei ihm den tödlichen Herzinfarkt ausgelöst. Rainers Eltern? Sie hatte keine Ahnung, wie sie es aufnehmen würden. Fast bedauerte Andrea es ein wenig, dass sie nicht das Gesicht ihrer Schwiegermutter sehen würde. Schadenfreude? Ein bisschen. Die Schwiegermutter hatte sich damals sehr enttäuscht über Rainers Wahl gezeigt und es Andrea immer spüren lassen.

Der gemeinsame Freundeskreis war geschrumpft. Regelmäßig trafen sie sich nur noch mit Anja und Bert. Anja würde das Ganze furchtbar peinlich sein. Bert würde sicher so was sagen wie „Bei der wäre ich auch lieber schwul geworden.“ Andrea konnte ihn ohnehin nicht leiden.

„Ich kann mir vorstellen, wie Du Dich jetzt fühlst.“ Rainer traute sich, Andrea ins Gesicht zu sehen. Andreas Wut wuchs. Verdammt. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. „Jetzt kannst Du jede Nacht mit dem Kater im Bett schlafen“. Falls Rainer scherzen wollte, war das gründlich misslungen. Jetzt diesen ewigen Streitpunkt ins Spiel zu bringen, war wohl das Allerletzte. Die Tränen waren verschwunden. Genau jetzt, in diesem Moment, hätte Andrea sicher die Kraft gehabt, ihn mit einer Hand von der Terrasse zu schubsen.

Andrea zog die Nase hoch und stand auf, die Hände zu Fäusten geballt. Bevor sie einen Schritt auf Rainer zumachen konnte, drehte er sich vom Sofa. „Ok Schatz, dann gehe ich jetzt mal besser“. Eine Sekunde später hörte sie die Tür ins Schloss fallen.

Andrea griff zum Telefon. Gott sei Dank! Ihr Bruder war zu Hause. Nach ihrem Bericht schwieg er einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Du Glückspilz!“ rief er. „Jetzt hast Du ihn in der Hand!“ Andrea verstand nicht.

„Vertraue Deinem Bruder. Ich habe schließlich Scheidungserfahrung. Rainer hat das schlechteste Gewissen, das man sich vorstellen kann. Jetzt kannst Du alles von ihm verlangen. Die Wohnung. Das Auto. E-h-e-g-a-t-t-e-n-u-n-t-e-r-h-a-l-t!“
„Ich betrüge ihn doch aber auch.“ „Das ist jetzt total egal. Hauptsache, Du behältst die Nerven. Erzähl mir von diesem Thorsten. Ist das nicht diese Lusche, die Rainer zu seinem Geburtstag eingeladen hatte?“

„Lass uns doch wie Erwachsene sprechen“, eröffnete Rainer am nächsten Tag das Gespräch. „Ja, sicher. Und Freunde bleiben“, erwiderte Andrea mit einer ehrlichen Portion Verbitterung. „Wie vermehren sich eigentlich Filzläuse“, sinnierte sie. Wie konnte er sie nur so demütigen? „Wenigstens kann er Thorsten nicht schwanger gemacht haben“, ging ihr durch den Kopf.

„Ich will die Wohnung“, sagte sie laut. Rainer nickte stumm. „Herpes Genitalis“, dachte sie und stellte sich vor, wie wunderbar Holgers Kommode sich neben dem Ohrensessel machen würde. Das Telefonat mit ihrem Bruder wirkte! Die Gewinnerseite fühlte sich gut an.

Rainer saß zusammengesunken am anderen Ende des Sofas. „Und das Cabrio“, setzte Andrea drauf und sah ihn fest an. Rainer seufzte und nickte erneut. Er wagte nicht, sie anzusehen. Ihrem Blick hätte er ohnehin nicht standhalten können.

„Ich glaube, du gehst jetzt besser“, befahl sie ihm.  Rainer erhob sich hastig und schien erleichtert. „Deine Sachen kannst Du morgen holen, wenn ich nicht da bin.“ „Eitriges Analfurunkel“, flüsterte sie ihm hinterher und musste grinsen.

In einer knappen Stunde würde Holger vor der Tür stehen. Sie öffnete den Kühlschrank. Wunderbar, der Champagner, den Rainer von seinem Chef geschenkt bekommen hatte, war gut durchgekühlt. Andrea stellte auf der Terrasse Gläser für die kleine Sieges- und Willkommensfeier mit Holger bereit.

Holger sah die Wohnung zum ersten Mal. Dass Andrea dies alles für ihn aufgegeben hätte, rührte ihn. Er trat auf die Terrasse. „Wow! Was für eine Aussicht!“ Andrea freute sich über seine Begeisterung und verschwand in der Küche, um den Champagner zu holen. Im Flur kam ihr der Kater entgegen, den die Neugier aus dem Bett gelockt hatte.

„Was ist das denn? Eine aufgeplatzte Sofaecke auf Beinen?“ hörte sie Holger auf der Terrasse laut lachen. Der Kater setzte zum Sprung an. Als Holger ihn auf seinen Kopf zufliegen sah, versuchte er, sich am Geländer festzuhalten.

Die Beichte – Teil 1

Was für ein Tag – und das Schlimmste stand Andrea noch bevor! Die Füße waren geschwollen und sehnten sich nach Befreiung aus den Schuhen. Sie kickte die Schuhe nacheinander in Richtung Schuhregal. Ah, tat das gut jetzt barfuß auf dem kühlen Holzboden zu stehen.

Bevor Rainer gleich nach Hause kommen würde, brauchte sie auf jeden Fall noch eine Tasse Kaffee – am besten mit Cognac. Allerdings musste sie für das was vor ihr lag, einen klaren Kopf bewahren.

Heute musste sie es endlich tun. Immer und immer wieder hatte sie mit Holger das Für und Wider abgewogen. Immer wieder waren sie zu dem gleichen Ergebnis gekommen: Andrea musste es ihm sagen. Sie musste Rainer sagen, dass sie ihn verlässt. Und dann musste sie es auch wirklich tun.

„Und wenn er mich nicht gehen lässt, dann bringe ich ihn halt um“, murmelte Andrea. Dieser Teil des Plans war nicht mit Holger abgestimmt, aber ihr half der Gedanke. Zur Bestätigung nickte sie. Wie sie Rainers Leben ein Ende setzen würde, wusste sie nicht. Ein Sturz von der Terrasse würde ihr gut gefallen. Das Penthouse lag in der siebten Etage. Rainers Ende wäre sicher, sie hätte die Sauerei nicht in der Wohnung und müsste nicht in Holgers 1 ½-Zimmer-Appartement umziehen.

Wenn sie sich jetzt nicht offenbaren und Rainer verlassen würde, würde Holger gehen. Das ahnte sie. Holger wollte Klarheit. Er konnte es kaum aushalten, dass Andrea nach einem wundervollen gemeinsamen Nachmittag zurück zu Rainer ging. Holger wollte Andrea ganz. Dabei war sie es, die aufpassen, immer auf der Hut sein musste. Sich nur nicht verplappern. Andrea und Rainer hatten sich schon seit Jahren nicht mehr viel zu sagen – endlich schien dieser Umstand zu etwas nütze. Zu Hause stellte sie die bekannte engagierte Businessfrau zur Schau. Immer in Hetze, von Termin zu Termin. Oft wunderte sie sich selbst, wie sie es schaffte, Zeit für Holger einzubauen. Offenbar war sie talentiert. Rainer jedenfalls schien keine Veränderung zu bemerken.

Andrea trat an das bodentiefe Fenster und blickte auf die große Terrasse. „Ihr mit euren beiden Fußballfeldern“, scherzte Andreas Bruder gerne in Anspielung auf Wohnzimmer und Terrasse des Penthouses. „Bald gehöre ich nicht mehr hierher“, dachte sie wehmütig. Das Leben mit Rainer hatte auch angenehme Seiten. Anders als Holger hatte Rainer niemals finanzielle Sorgen. Davon hatte Andrea durchaus profitiert.

Andrea schüttelte den Kopf. Nein, jetzt alten Zeiten nachtrauern, dafür war jetzt keine Zeit. Mit schnellen Schritten ging sie ins Schlafzimmer, um ein paar Sachen für die ersten Tage bei Holger zusammenzupacken. Den Rest könnte sie später holen.

Im Schlafzimmer hatte es sich der Kater auf dem Bett bequem gemacht. Als Andrea den Raum betrat, öffnete er faul ein Auge und drehte sich auf den Rücken, damit sie ihm besser den Bauch kraulen könnte. Andrea grinste. Dieser Kater! Sie durfte sein Lieblingskissen nicht vergessen.

Den gepackten Koffer stellte Andrea in den Schrank zurück. Er sollte Rainer nicht gleich ins Auge fallen, sollte er sich im Schlafzimmer für den Feierabend umziehen wollen.

Wenn sie mit Holger sprach, war der Plan ganz klar. Sie versuchte, sich in das sichere und geborgene Gefühl zurückzudenken, das Holger ihr gab. Mit dieser Erinnerung fühlte sie sich gewappnet. Sie setzte sich auf das Sofa und wartete.

Als sie Rainers Schlüssel im Schloss hörte, wurde ihr flau. „Hallo Schatz, schon zu Hause?“ rief er zu ihr herüber.

„Ja, hat heute alles ganz gut geklappt“, entgegnete sie.

„Gut! Andrea, wir müssen reden.“

Irgendetwas in Rainers Stimme beunruhigte sie. „Andrea“ hatte er zuletzt zu ihr gesagt, als er um ihre Hand angehalten hatte. Sonst war sie „Andi“ oder „Schatz“. Ahnte er doch etwas? Blick und Stimme waren sehr ernst. Andrea schluckte und holte tief Luft. Sie war darauf gefasst, sich verteidigen zu müssen. Sich und Holger. Und ihre Liebe. Sie öffnete den Mund, doch Rainer kam ihr zuvor.

Sonntag

Heute früh

um kurz nach zehn

schmusten meine Lippen mit einem Marmeladenbrötchen.

Der Gaumen stupste die Seele ganz sachte an.

Hand in Hand hüpften sie davon.